Inspiriendes Erzählcafé: Austausch über die Erfahrungen im Lockdown

Marianne Wintzer führt schon seit längerem Erzählcafés im Alterszentrum Wengistein in Solothurn durch. Mit dabei waren jeweils stationäre Bewohnerinnen und Bewohner sowie Tagesgäste. Mit dem Lockdown kam alles anders.

Der Lockdown im Frühling 2020 war für Marianne Wintzer, stellvertretende Stationsleiterin, ein Schock: «Das Alterszentrum war vom 13. März bis 23. Juni 2020 komplett geschlossen. Wir mussten unsere sehr offene Institution mit Zentrumsfunktion, starkem Einbezug der Angehörigen, vielen freiwilligen Mitarbeitenden, internen und externen Anlässen, viel Besuch und einem florierenden Restaurant von einem Tag auf den anderen schliessen.»

Es stand in den Sternen, ob Menschen noch zusammen am Tisch sitzen dürfen. «Die Erzählcafés waren immer sehr beliebte und lebendige Veranstaltungen», erzählt Marianne Wintzer. Bei der Planung achtete stets auf die aktuelle Stimmung und Situation und wählte ein passendes Thema, zum Beispiel Wohlfühloasen oder Muttertag. «Der Austausch zwischen Menschen, die im Alterszentrum wohnen, und den Tagesgästen war immer sehr schön und hat für Abwechslung im Alltag gesorgt. Plötzlich sollte das nicht mehr möglich sein», erinnert sie sich.

Austausch auch im Lockdown

Die Moderatorin wollte den Kopf aber nicht in den Sand stecken und entschied sich, mit der nötigen Vorsicht weiterzumachen. Sie organisierte Erzählcafés unter strengen Hygienebedingungen und in kleinen Gruppen. «Ich konnte die positiven und negativen Stimmungen gut auffangen», erzählt Wintzer. Sie stimmte die Bewohnerinnen und Bewohner mit einer farbig gestalteten Pinwand auf die Erzählcafés ein und gestaltete die Erzählcafés nach dem gleichen Ablauf: auf den Rückblick folgte ein Ausblick. Von den 90 meist hochbetagten Bewohnenden lud sie 46 ein, 27 sind der Einladung schliesslich gefolgt.

Auf der Pinwand sind Fotos aus dem Lockdown zu sehen. Sie zeigen gemeinsame Erinnerungen und stimmen die Teilnehmenden aufs Erzählcafé ein.

Rechenschaftsbericht nimmt Erzählungen auf

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seien laut Wintzer informiert gewesen, dass an den Erzählcafés auch der Lockdown zur Sprache komme und das Gesagte ausgewertet werde. «Die Stationsleitung wollte von den direkt Betroffenen hören, wie sie den Lockdown erleben und was wir kollektiv daraus lernen können», sagt Marianne Wintzer. «Das Wohl unserer Bewohnerinnen und Bewohner steht im Mittelpunkt.»

Die Erlebnisse und Wahrnehmungen, die sich die Menschen erzählten, wurden von der Zentrumsleitung ausgewertet und flossen in den Rechenschaftsbericht ein. Dieser erzählt von Traurigkeit, Dankbarkeit dem Personal gegenüber, Skepsis gegenüber der Gefährlichkeit der Situation, aber auch von der Freude an den Blumen oder dass «der Buchhalter endlich wieder herkommen kann, um wichtige Dinge zu erledigen.» Wintzer erzählt: «Ich war sehr beeindruckt ob der Fülle und Intensität der Aussagen. Alle Bewohnenden mussten während des Lockdowns eine unglaubliche Anpassungsleistung vollbringen. Diese wurde in den Erzählcafés wertgeschätzt, anerkannt und angesprochen.»

Mit dieser innovativen Idee hat Marianne Wintzer vom Netzwerk Erzählcafé einen Förderbeitrag von 500 Franken erhalten.

Über Marianne Wintzer

Seit 30 Jahren wirkt Marianne Wintzer im Sozial- und Gesundheitswesen mit und für Menschen. Sie ist stellvertretende Zentrumsleiterin im Alterszentrum Wengistein sowie Bereichsleiterin Tageszentrum und Ferienaufenthalt. Mit ihrer «Geschichtenwerkstätte» widmet sie sich zudem dem Erzählen, Zuhören und Bearbeiten von Lebensgeschichten. Beim Erzählcafé engagiert sie sich als aktive Moderatorin.

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