Am 15. September 2023 feierte die Schule in Poschiavo den Internationalen Tag der Demokratie. Alle neun Klassen, bestehend aus etwa 130 Schülerinnen und Schülern, versammelten sich zusammen mit ihren Klassenlehrpersonen und einigen Mitgliedern des Jugendparlaments zum Erzählcafé. Es drehte sich um die verschiedenen Facetten der Demokratie. Catia Curti, Leiterin der Sekundarstufe I der Schulen von Poschiavo, teilt ihre Eindrücke von diesem besonderen Tag.

Die Atmosphäre an diesem Freitag, dem 15. September, war geprägt von «Stärke, Intensität und einem Gefühl der Befreiung». So beschrieben die Schülerinnen und Schüler der Mittelschule von Poschiavo das Erzählcafé zum Thema Demokratie. Über anderthalb Stunden lang führten sie lebhafte Gespräche, diskutierten leidenschaftlich, manchmal wurde es laut, und hin und wieder flossen auch Tränen. Die Mitglieder des Jugendparlaments, Drittklässlerinnen und Drittklässler, die sich seit dem letzten Jahr für die Belange der Jugendlichen im Tal einsetzen, wählten ein facettenreiches Thema aus dem Bereich der Demokratie und präsentierten es den einzelnen Klassen.

Was heisst eigentlich Demokratie?

Die Themen reichten vom Recht der freien Meinungsäusserung bis hin zu persönlichen Erfahrungen von Jugendlichen, die sich in ihren Familien, Schulen oder Freundeskreisen nicht immer frei fühlen, ihre Meinung zu sagen und sie selbst zu sein. Es wurde über weltweite und innere Konflikte debattiert, über die wahre Bedeutung von Gleichheit und wie weit wir von ihrer vollen Verwirklichung entfernt sind, sei es im globalen Multikulturalismus oder in unserer kleinen, lokalen Realität. Die Diskussionen reichten von der Bedeutung der Wahl von Vertretern bis hin zur Wahl der Mitglieder des Jugendparlaments in der Schule und sogar zu Vorschlägen zur Förderung kultureller Initiativen im Unterricht. Die jungen Menschen überlegten auch gemeinsam, was als öffentliches Gut betrachtet wird und welche Pflichten jede und jeder Einzelne hat, um das zu bewahren und zu respektieren, was allen gehört.

Jede Klasse, jede Gruppe und jede*r Schüler*in hatten die Möglichkeit, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken. Sie sprachen über Themen, die sehr relevant sind, aber wenig zur Sprache kommen. Die Schülerinnen und Schüler haben das Gespräch mit grosser Reife und Überzeugung geführt. Das Erzählcafé war ein grosser Erfolg, und viele haben bereits gefragt, wann das nächste stattfinden wird.

Oft neigen wir dazu zu denken, dass das Plaudern in der Hektik des Alltags Zeitverschwendung ist. In Wahrheit handelt es sich jedoch um eine eine nützliche und gesunde Praxis. Es liegt in der Natur des Menschen, sich auszutauschen, Meinungen zu teilen und zu diskutieren. Und was ist dazu besser geeignet als ein Erzählcafé? Es ist eine wunderbare Form, um über das zu sprechen, was die Menschen glücklich und frei macht: Demokratie!

Catia Curti, Leiterin der Sekundarstufe I der Schulen von Poschiavo

Natalie Freitag moderierte die Intervision #8 am 24. August 2023 in Basel. An der Tagung tauschten sich die Moderierenden unter anderem über die Frage der idealen Gruppengrösse bei einem Erzählcafé aus. Sie gibt einen Einblick in die Gedanken, die dabei entstanden.

An der Intervision 2023 in Basel nahmen 12 Moderierende des Netzwerks Erzählcafé teil. Sie trafen sich, um sich zum Thema «Erzählcafés in Grossgruppen» auszutauschen. Der rege Austausch begann schon vor dem Anlass mit Kaffee und Gipfeli. Dann startete die Gruppe mit einem Erzählcafé zum Thema «Sommer». Barfusslaufen als Inbegriff von Sommer, das Schreien der Kinder in der Badi, die Freiheit, einen anderen Tagesrhythmus zu leben, aber auch das Fehlen der Schulgspänli: die Erinnerungen aus der Kindheit ähnelten sich. Das Gespräch führte unweigerlich auch zu den vielen Glacé-Sorten in der Badi. Erstaunlicherweise hatten alle in der Gruppe ein anderes Lieblingseis!

Erfahrungen mit grösseren Gruppen

Johanna Kohn und Claudia Sollberger gaben im Anschluss Einblick in ihre Erfahrungen mit grossen Gruppen und warfen die Fragen in die Runde:

  • Was ist die ideale Gruppengrösse bei einem Erzählcafé?
  • Wieviele Personen müssen mindestens da sein, damit ein Gespräch entsteht?
  • Und ab wievielen Personen wird es schwierig, ein Erzählcafé allein zu moderieren?

Die Professorin und die erfahrene Moderatorin kennen es aus eigener Erfahrung, Gruppen von 50 oder 100 Personen zu moderieren. Die Teilnehmenden hatten viele Ideen, wie eine Moderation reagieren kann, wenn mehr Personen als geplant zum Erzählcafé kommen:

  • Um das Format auch bei grösseren Veranstaltungen einzusetzen, kann eine kleine Erzählcafé-Runde auf dem Podium gestartet werden. Das Publikum kann das Erzählcafé passiv mitverfolgen. Im Anschluss kann die kleine Runde für alle geöffnet werden.
  • Eine Moderation kann die grosse Gruppe auf mehrere Tische aufteilen. Idealerweise moderiert dann eine Person pro Tisch das Gespräch. Die Fragen, die an die vielen kleinen Gruppen an den Tischen gestellt werden, wird im Anschluss im Plenum aufgegriffen.
  • Die Moderation behält die grosse Gruppe bei, wird aber durch ein bis zwei Helfer*innen unterstützt. Diese können zum Beispiel mit dem Mikrofon zur Person gehen, die etwas beitragen möchten.

Auftraggebende gut briefen

Das Gespräch regte zu weiteren Geschichten über eigene Erfahrungen mit verschiedenen Gruppengrössen an und führte am Nachmittag zu einem sehr konzentrierten und interessierten Austausch über Bezahlung, An- und Abmeldung und das Fehlen dieser Möglichkeit. Ein wichtiger Gedanke, der aufkam, war, dass die Auftraggebenden gut informiert und gebrieft werden müssen, um keine falschen Erwartungen zu wecken. Sie kennen das Angebot oft nicht so genau und können eine andere Vorstellung entwickeln, was ein Erzählcafé zu leisten vermag.

Fazit der Diskussion ist, dass auch Erzählcafés in grösseren Gruppen möglich sind. Das Netzwerk Erzählcafé ermutigt alle Moderierenden, es einmal auszuprobieren und Erfahrungen damit zu sammeln. Diese können zum Beispiel am «Schwarzen Brett» geteilt werden.

Im Anschluss an die Tagung genossen die Teilnehmenden im kühlen Schatten des Gartens im Zwinglihaus ein feines Essen vom Restaurant du coeur. Sie waren sich einig, dass sie sehr von diesem Tag profitieren konnten – vom Austausch über das inspirierende Miteinander bis zu den vielen Inputs für die eigene Arbeit. Danke an alle, die mitgewirkt und unterstützt haben!

Übrigens: Unsere Online-Stammtische sind auch wunderbare Gefässe für einen kurzen Austausch ohne lange Anfahrtszeit! Zu finden in der Agenda.

 

Zur Autorin

Natalie Freitag ist Regionalkoordinatorin des Netzwerks in der Deutschschweiz. Die Ostschweizerin moderierte die Tagung und resümiert: «Ich ermutige euch, auch Erzählcafés, bei denen ein einzelner Stuhlkreis nicht mehr genügt, sorgfältig vorzubereiten.»

Das Migros-Kulturprozent, eine unserer Trägerorganisationen, bietet neue Förderangebote für Engagierte:

Wer eine Initiative oder ein Projekt startet und Know-how sucht, findet pragmatische Unterstützung und Ideen.

Dieses Angebot ist auch für Moderierende und Veranstaltende mit einem geplanten oder bereits gestarteten Erzählcafé-Projekt interessant.

Die Pedibus-Koordination des Kantons Waadt nutzt das Erzählcafé für den Generationen übergreifenden Austausch. Jüngere und ältere Menschen erzählen sich Anekdoten und Erfahrungen, die sie auf dem Schulweg machen oder an die sie sich erinnern. Das stärkt die Beziehungen im Quartier und den Zusammenhalt der Generationen. Die Pedibus-Koordinatorin Vanessa Merminod sagt, wie der Pedibus funktioniert und welche Themen am Erzählcafé aufkamen.

 

Interview: Anne-Marie Nicole

Frau Merminod, was ist ein «Pedibus»?

Vanessa Merminod: Der Pedibus ist ein System zur Begleitung von Kindern zwischen 4 und 8 Jahren. Eine erwachsene Person begleitet die Kinder zu Fuss zur Schule. In der Regel sind es die Eltern, die ihre Kinder abwechselnd auf der Pedibus-Route begleiten. Mit einem Generationen übergreifenden Pedibus wollen wir nun auch die Seniorinnen und Senioren ermuntern, als Begleitpersonen mitzumachen. Das fördert die körperliche Mobilität, hält fit und schafft Zusammenhalt.

Sie haben für den Generationen übergreifenden Dialog das Erzählcafé gewählt. Warum?

Unser Ziel war es, die Beziehungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu stärken. Es sind Menschen unterschiedlicher Generationen, die sich nicht unbedingt kennen, aber im selben Quartier wohnen. Das Erzählcafé ist eine gute Möglichkeit, ältere Menschen und Kinder zusammenzubringen. So haben sie die Gelegenheit, sich auszutauschen und ihre Erfahrungen und Geschichten zu einem Thema zu teilen, das für alle relevant ist – oder früher war: der Schulweg.

Wie liefen diese speziellen Erzählcafés ab?

Anfang Februar 2023 haben wir zwei Erzählcafés im Seniorentreffpunkt «Centre du Panorama» in Vevey organisiert. Die Seniorinnen und Senioren haben die Kinder und deren Eltern «zu sich» eingeladen, sprich an einen ihnen vertrauten Ort. Das Angebot kam so gut an, dass wir zwei Erzählcafés mit jeweils zwanzig Personen auf die Beine stellten! Sie wurden von Daniela Hersch und Evelyne Mertens moderiert. Im Rahmen einer ausserschulischen Aktivität haben wir noch ein drittes Erzählcafé in Morges veranstaltet. Dabei haben die Kinder die Seniorinnen und Senioren «auf ihrem Gebiet» empfangen. Um das Gespräch in Gang zu bringen, haben die Moderatorinnen Bilder zum Thema «Schulweg» mitgebracht. Am Ende des Erzählcafés haben alle eine Znüni-Box geschenkt bekommen – ein Erinnerungsstück, über das sich alle Generationen freuen!

Wie waren die Reaktionen aufs Erzählcafé?

Die Erzählcafés haben grossen Anklang gefunden und wir haben überaus positive Rückmeldungen bekommen. Die Seniorinnen und Senioren haben sich gefreut, bei einer Generationen übergreifenden Aktivität mitzumachen. Und den Kindern hat es Spass gemacht, mal etwas Ungewohntes zu erleben. Alle haben ihre Geschichten zum Schulweg mit Begeisterung erzählt. Der Schulweg ist einfach ein Thema, das sich perfekt für alle Generationen eignet. Die zu Beginn des Erzählcafés aufgestellten Regeln sind gut angekommen, vor allem jene, dass man zuhören, aber nicht sprechen muss. Selbst die zurückhaltendsten Teilnehmenden haben durch das Anhören der Geschichten der anderen Vertrauen gefasst und selbst erzählt. Und es war erstaunlich: Sogar die Allerjüngsten waren volle 45 Minuten lang aufmerksam!

Gibt es einen Moment, an den Sie sich besonders erinnern?

Ja! Egal zu welcher Zeit, der Schulweg scheint immer ein besonderer Moment für Freundschaften gewesen zu sein. Die Erzählung einer Sozialarbeiterin um die zwanzig, die die Kinder begleitete, knüpfte an die Erzählung einer Seniorin an, die erzählte, dass sie den Schulweg immer mit ihrer besten Freundin zurückgelegt hat. Die beiden sind ihr Leben lang beste Freundinnen geblieben. Auch ich erinnere mich an diesen Moment, wo man sich alles erzählt hat. Ein Kind wiederum erzählte, dass sein Freund weggezogen sei und es traurig ist, den Schulweg nicht mehr gemeinsam mit ihm zurücklegen und ihm nicht mehr seine Geschichten erzählen zu können.

Fanden Sie es auch herausfordernd?

Wir spüren immer noch die Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie. Bestimmte Aktivitäten müssen erst wieder anlaufen. Sowohl in Vevey als auch in Morges ist uns bewusst geworden, wie wichtig der Ort ist, an dem die Aktivität stattfindet; vor allem, weil es sich um eine neue Aktivität handelt. Die familiäre Umgebung half sowohl den Seniorinnen und Senioren, als auch den Kindern, Vertrauen zu fassen. Auch wenn die Kinder mitunter schüchterner sind, wenn es darum geht, das Wort zu ergreifen! Dann war da noch die Frage der Parität der Teilnehmenden. Aufgrund der Orte, die wir für die Erzählcafés gewählt haben, haben in Vevey mehr Seniorinnen und Senioren teilgenommen und in Morges mehr Kinder. Das Organisatorische hatte auch einen Einfluss auf den Ablauf der Erzählcafés. In Morges mussten wir zum Beispiel den Imbiss vor dem Austausch einplanen. Dadurch sind die Teilnehmenden aber gleich einmal in Kontakt gekommen, was es ihnen danach erleichtert hat, das Wort zu ergreifen.

Wie geht es weiter?

Wir wollen auf jeden Fall weitere Erzählcafés und parallel dazu künstlerische Aktivitäten und Spaziergänge in der Natur anbieten. All diese Dinge stehen mit den Werten des Pedibus im Einklang: gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gemeinschaftsgefühl, Sicherheit und Generationen übergreifende Beziehungen.

Vanessa Merminod

Vanessa Merminod ist die Koordinatorin von Pedibus Waadt. Ihre Aufgabe ist es, den Pedibus im Kanton mit verschiedenen Aktionen bekannter zu machen. Sie arbeitet auch mit den Gemeinden, Schulen und der Polizei zusammen. Weiter  sensibilisiert sie die Eltern und begleitet diese bei der Lancierung von Pedibus-Routen.

 

Seit ich beim Netzwerk Erzählcafé dabei bin, habe ich schon öfters wahrgenommen, dass die Methode des Erzählcafés mit anderen, ähnlichen Formaten verwechselt wird. Für manche Menschen ist die Abgrenzung zu anderen Erzählmethoden nicht klar. Deshalb möchte ich hier aufzeigen, was ein Erzählcafé ist – und was es nicht ist. Ich beginne damit, was es NICHT ist.

Text: Valentina Pallucca Forte

Das Erzählcafé ist nicht die richtige Methode, wenn:

  • Sie sich eine gute Zeit für das Erzählen und Zuhören von fiktiven Erzählungen wünschen.

In diesem Fall ist ein literarisches Café das Richtige für Sie. In einem Erzählcafé werden autobiografische Geschichten erzählt.

  • Sie ein Problem haben und eine Lösung finden möchten.

Das Erzählcafé hat keine Zielsetzung oder Erwartungshaltung. Das einzige Ziel ist es, Einblicke in die eigene Geschichte mit anderen zu teilen. Nicht selten hilft uns das Anhören der Lebenserfahrungen anderer dabei, die richtigen Werkzeuge für die Bewältigung persönlicher Situationen zu finden. Wenn Ihr Ziel darin besteht, ein Problem zu lösen, wäre eine Selbsthilfegruppe zielführender.

  • Sie eine Therapie brauchen.

Das mag trivial klingen, ist es aber nicht. Ein Erzählcafé ist nicht mit einer Therapie zu verwechseln. Die Moderierenden des Erzählcafés absolvieren einen Einführungskurs in die Moderation, der vom Netzwerk Erzählcafé  angeboten wird. Sie haben Erfahrung in der Leitung von Gruppen für Erwachsene, sind aber keine Therapeutinnen und Therapeuten.

  • Sie das Diskutieren und Debattieren mit anderen Menschen suchen.

Während des Erzählcafés urteilen Sie nicht über das, was erzählt wird, noch geben Sie Bewertungen ab oder erteilen Ratschläge. Politische oder philosophische Ideen werden nicht erörtert. Das Ziel ist der Austausch unter Gleichgesinnten, das Zuhören und die Wertschätzung der kleinen persönlichen Geschichten.

Fazit:

Das Erzählcafé ist NICHT alles, worüber ich oben geschrieben habe. Es ist noch viel mehr: eine einfache, schnelle und niederschwellige Methode, um Menschen zusammenzubringen und ihnen einen schönen Moment des Austauschs zu ermöglichen. Durch das Zuhören und Erzählen unserer Lebenserfahrungen befinden wir uns auf der gleichen Ebene, unsere Geschichten gewinnen an Wert und wir fühlen uns als Teil einer Gemeinschaft.

Dank des Erzählcafés haben wir die Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu treten, denen wir auf unserem Lebensweg vielleicht nie begegnet wären. Menschen, die sich in Bezug auf Herkunft, Kultur, Religion und Alter von uns unterscheiden, die wir aber vielleicht als sehr ähnlich empfinden.

Am Ende eines Erzählcafés fühlen wir uns reicher und mehr im Einklang mit anderen.

Wenn ich Sie noch nicht überzeugt habe, lade ich Sie ein, ein Erzählcafé selbst zu erleben!

In der Agenda auf der Website finden Sie Erzählcafés in Ihrer Region.

Die Moderatorin Birgit Libiszewski erzählt von ihrem Erzählcafé. Die Informationsspezialistin arbeitet in der Bibliothek Münstergasse in Bern. Sie interessiert sich für Menschen und deren Geschichten. Sie hat am Erzählcafé in die Runde gefragt, welche Erinnerungen die Teilnehmenden zum Thema «Reparieren» haben. Schauen Sie rein!

Hören Sie auch die Tonaufnahme zum Thema «Reparieren»(Teil 1) und (Teil 2) an und lassen Sie sich inspirieren, selber einmal an einem Erzählcafé teilzunehmen.

Video: Daniel Bodenmann im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz

Oriana Togni ist Sozialarbeiterin bei ProSenectute. Neben ihrer Tätigkeit bei “Cine…ma” in Gordola organisiert und moderiert sie auch die Erzählcafés und versucht dabei, den Interessen und Wünschen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gerecht zu werden.

Text: Valentina Pallucca

Warum haben Sie beschlossen, Ihren Gästen die Erzählcafés vorzuschlagen?

Oriana Togni: Die Idee, Erzählcafés anzubieten, entstand, nachdem wir vom Netzwerk Erzählcafé (Migros-Kulturprozent) erfahren hatten. Wir hielten diese Art von Projekt für geeignet, um es im Rahmen des sozialen Treffpunkts des Quartiers anzubieten. Wir haben hier einem Ort, an dem wir versuchen, Treffen, Begegnungen und sozialen Zusammenhalt zu schaffen.

Wer nimmt an Ihren Erzählcafés teil?

Jede und jeder kann an unseren Erzählcafés teilnehmen! Die meisten Teilnehmenden sind Pensionäre, da die Erzählcafés in der Regel nachmittags stattfinden. Für ältere Menschen ist es sehr bereichernd, an einer solchen Zeit des Austauschs und des Dialogs teilzunehmen, denn so können sie Menschen treffen, Kontakte knüpfen und die soziale Isolation durchbrechen. Sie setzen sich gleichzeitig mit verschiedenen Themen auseinander und bleiben am Puls.

Welche Themen sind am beliebtesten?

Im Jahr 2022 haben wir sieben Erzählcafés im Torhaus des Cine..ma in Gordola veranstaltet. Die Themen reichten von sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Themen bis hin zu informellen Momenten, die mit Geschichten aus vergangenen Zeiten verbunden waren.

Ein Erzählcafé, das grossen Anklang fand, war dasjenige zum Thema “Schulweg”, das in Zusammenarbeit mit dem Verein Pedibus stattfand. Bei dieser Gelegenheit haben die Teilnehmenden in ihren Erinnerungen geschwelgt und von Erfahrungen aus ihrer Kindheit erzählt. Alles, was mit der Vergangenheit zu tun hat, ist bei den Menschen sehr beliebt. Es ist einfach schön, Erinnerungen, Emotionen und Momente aufleben zu lassen!

Gibt es einen Moment, an den Sie sich besonders erinnern?

Ein Erzählcafé, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, hatte mit dem Thema Migration zu tun. Ich war angenehm überrascht, wie sensibel die Teilnehmenden mit dem Thema umgingen. Jede und jeder in der Gruppe war in der Lage, Sensibilität, Empathie und Offenheit gegenüber anderen zu zeigen, unabhängig von der kulturellen Herkunft, sozialen Schicht, dem Geschlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit. Es ist wirklich wahr, dass man in solchen Momenten nie aufhören kann, von anderen zu lernen.

Was würden Sie jemandem raten, der die Moderation eines Erzählcafés ausprobieren möchte?

Ich würde sehr empfehlen, sich darauf einzulassen. Man wird angenehm überrascht von den verschiedenen Standpunkten, die während der Erzählungen auftauchen und die manchmal Blickwinkel ans Licht bringen, die man vorher nicht bedacht hat. Hinzu kommt, dass die Diskussion die Menschen einbezieht und indirekt verbindet, wodurch eine Art sozialer Zusammenhalt entsteht. Ein Aspekt, den wir im Rahmen unserer Arbeit jeden Tag zu stärken versuchen.

CINE…ma in Gordola

Der Nachbarschafts-Concierge CINE…ma di Gordola ist ein Projekt von ProSenectute. Es handelt sich um einen offenen Ort, der den Menschen in der Umgebung zur Verfügung steht. Er bietet nicht nur die typischen Dienstleistungen eines Quartier-Concierge an, sondern soll auch ein Ort des Zuhörens, der Begegnung und des Austauschs sein. Mit dem Projekt wird die Intergenerationalität und die soziale Integration gefördert.

Die Erzählcafé-Moderatorin Ana Pajic erzählt im Artikel im Tagblatt vom 18. März 2023, wie sich Besucherinnen und Besucher des Forum Würth überraschen, inspirieren und berühren lassen. Im «Erzähl-Café» in Rorschach treffen sich jeden Monat fremde Menschen, um sich über Geschichten zu einem vorgegebenen Thema zu unterhalten. Zum Artikel (Online oder PDF).

Nino Züllig wanderte in jungen Jahren von Georgien nach Deutschland aus. Seit 2014 lebt sie in Basel und arbeitet als Dolmetscherin. Die Erzählcafé-Moderatorin führte mit HEKS beider Basel interkulturelle Erzählcafés durch. Menschen aus der Ukraine und Georgien haben über ihre Heimat und das Leben in der Schweiz gesprochen.

 

Erinnerst du dich an dein erstes Erzählcafé?

Nino Züllig: Ja klar! HEKS beider Basel wollte im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration älteren, zugewanderten Menschen Erzählcafés anbieten. Da ich schon länger für HEKS dolmetsche, wussten sie, dass ich Russisch spreche. Im Frühling 2022 war mein erstes Erzählcafé. Es kamen Geflüchtete aus der Ukraine und ein georgisches Ehepaar aus meinem Bekanntenkreis.

Warum habt ihr das Erzählcafé auf Russisch angeboten?

Viele Menschen in der Ukraine sind zweisprachig und sprechen neben der ukrainischen Muttersprache auch Russisch. In Georgien können sich meist die älteren Leute noch auf Russisch verständigen. Russisch bot sich als unsere gemeinsame Sprache an.

Wie fühlt sich ein Erzählcafé auf Russisch für eine Ukrainerin an?

Ich war mir bewusst, dass ich sehr vorsichtig sein muss, wenn ich ein interkulturelles Erzählcafé auf Russisch anbiete. Man kann die Politik nicht ignorieren. Normalerweise ist ein Erzählcafé etwas Entspanntes und Angenehmes. Bei meinem Setting schwingt der Krieg immer mit. Als Moderatorin muss ich viel Fingerspitzengefühl haben, damit das Gespräch im ruhigen, friedlichen Rahmen bleibt und die Leute sich wohlfühlen. Und zwar diejenigen, die gerne Russisch sprechen, als auch diejenigen, die die Sprache nicht mögen. Ich glaube, ich erfahre viel Akzeptanz, weil ich aus Georgien stamme und beide Seiten verstehe.

Was ist dein Tipp?

Oft kommt es vor, dass eine Ukrainerin während des Erzählcafés eine Nachricht von ihrem Mann im Krieg bekommt und abgelenkt ist. Ich verstehe, dass sie dann darüber reden will. Als Moderatorin muss ich darauf eingehen und es annehmen, aber dann doch zurück zum eigentlichen Thema finden. Das Erzählcafé soll ein Ort der Entspannung sein, wo man über etwas anderes reden kann. Mein Tipp an Moderierende: Das Thema langsam und vorsichtig wechseln.

Deine Lieblingsthemen?

Mein erstes Thema war «Ich in der Schweiz». Die Gruppe hat darüber sinniert, wie sie sich hier fühlen, wie es früher war und mit welchen Schwierigkeiten sie kämpfen. Ich habe dann ein anders Thema identifiziert: «Gut und günstig leben in der Schweiz». Da kam ein sehr ideenreicher Erfahrungsaustausch zustande. Als ich in den normalen Rhythmus kam, wählte ich auch fröhliche Themen wie «Schön und modisch».

An dein Erzählcafé kommen vor allem Menschen 55+. Was beschäftigt sie?

Die deutsche Sprache ist das Hauptthema. Ältere Menschen lernen nicht mehr so leicht. Je älter man wird, desto schwieriger ist Migration. Man kommt an einen Ort, wo man die Sprache nicht spricht, die Kultur nicht kennt, ins Ungewisse geht. Ich mache diese Erzählcafés von Herzen, weil ich die Sorgen der Menschen gut nachvollziehen kann.

Was hat dich am meisten überrascht?

Es gibt immer wieder Aha-Erlebnisse. Egal, wo die Menschen aufgewachsen sind, einige Dinge sind überall gleich. Wir haben einmal ein Erzählcafé mit Menschen aus der Schweiz, der Ukraine und Georgien durchgeführt. Dabei haben wir gemerkt, dass sie alle als Kind ähnliche Sachen gespielt haben und sogar ähnliche Lieblingsessen hatten. Mein Fazit: Die Welt ist klein, wir sind gar nicht so unterschiedlich.

Bild: Nino Züllig hat am Erzählcafé das Guetzlibacken zum Thema gemacht.

Zur Person

Nino Züllig studierte in Georgien Deutsch und zog schon jung nach Deutschland. 2014 folgte sie ihrem Mann nach Basel. Sie arbeitet als interkulturelle Dolmetscherin und veranstaltet regelmässig Erzählcafés. In ihrer Freizeit ist sie am liebsten mit ihrer Familie in der wilden Natur unterwegs.

Interkulturelle Erzählcafés

Seit 2022 bietet die HEKS Geschäftsstelle beider Basel im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration Erzählcafés an. Sechs interkulturelle Vermittelnde bildeten sich bei Johanna Kohn weiter und bieten seitdem Erzählcafés in verschiedenen Sprachen an. Im 2023 werden die Erzählcafés fortgeführt. Sie sind thematisch verknüpft mit anderen Angeboten von AltuM beider Basel.

 

Interview: Anina Torrado Lara

Zwischen Juni und Dezember 2022 habe ich, auf Anfrage der Stadt Genf, rund zehn Erzählcafés mit Bewohnerinnen und Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen moderiert. Eine prägende zwischenmenschliche Erfahrung, die mehr als anderswo Anpassungsfähigkeit und Kreativität im Umgang mit Unvorhergesehenem erforderte.

«Was erzählen Sie uns denn heute?» Diese Frage wird mir unweigerlich gestellt, wenn ich gebeten werde, ein Erzählcafé mit älteren Menschen durchzuführen, die in einem Alters- und Pflegeheim leben. Und zwar noch bevor ich überhaupt erklären konnte, was das Erzählcafé ist, zu dem sie eingeladen worden sind, und wie es abläuft. Jedes Mal antworte ich mit einem breiten Lächeln und beruhige: «Nicht ich, sondern Sie werden erzählen», was bei vielen Verwunderung hervorruft. Ich schliesse daraus, dass sich das Erzählen über das eigene Leben und die Erlebnisse in Alters- und Pflegeheimen eher auf Gespräche unter vier Augen beschränkt oder hinter verschlossenen Türen im Zimmer stattfindet.

Auf Anfrage der Abteilung für Kultur und Digitalisierung der Stadt Genf (Département de la culture et de la transition numérique) wurden – zeitgleich mit der Promotion der Website mirabilia.ch – Erzählcafés in Seniorenvereinen und Alters- und Pflegeheimen angeboten. Ziel war es, diese neue digitale Plattform den Seniorinnen und Senioren vorzustellen und sie auf das reichhaltige Erbe der Museen und kulturellen Einrichtungen der Stadt aufmerksam zu machen. So wurden zwischen Juni und Dezember 2022 fünfzehn Erzählcafés organisiert, die meisten davon in Alters- und Pflegeheimen. Die Themen orientierten sich an jenen der Plattform mirabilia.ch, in diesem Fall war es das Reisen.

Sich besser kennenlernen … auch wenn man sich schon kennt

Auch wenn nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich war, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Alters- und Pflegeheime freuten, am Erzählcafé teilzunehmen, so haben sie insbesondere die Möglichkeit des respektvollen Gesprächs und des wohlwollenden Zuhörens geschätzt. Zwar haben diese Treffen ihren Zweck, die Website mirabilia.ch zu bewerben, nicht voll erfüllt, sie haben den Teilnehmenden jedoch die Möglichkeit geboten, von sich zu erzählen, einander zu entdecken und besser kennenzulernen – auch wenn sie täglichen Kontakt zueinander haben.

Vor allem aber sorgten die Erzählcafés dafür, dass sich die Bewohnnerinnen und Bewohner wieder als Individuum mit eigener Identität innerhalb der Gemeinschaft fühlen. Ausserdem wurde ihren persönlichen Erzählungen Wert beigemessen, da alle aufmerksam zuhörten, ohne zu unterbrechen, zu kommentieren oder zu urteilen. «Anders als sonst üblich haben sie einander zugehört, ohne einander ins Wort zu fallen oder zu widersprechen», stellte eine Fachperson einer Einrichtung fest. Die Gesprächsregeln am Erzählcafé, die selbstverständlich erscheinen mögen, sind hier besonders wichtig.

Anpassung und Kreativität

Die Moderation von Erzählcafés mit älteren Menschen, deren funktionale, kognitive und soziale Fähigkeiten nachlassen, geht mit besonderen Herausforderungen einher. Man muss auf Unvorhergesehenes reagieren und Kreativität an den Tag legen können, «um vom geplanten methodischen Ablauf abzuweichen und wieder darauf zurückzukommen, wenn es für die Teilnehmenden einen Vorteil hinsichtlich Anerkennung, Erfahrung und Interaktion mit den anderen darstellt», erklärt Johanna Kohn, Professorin am Institut für Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und Mitglied des Teams des Netzwerks Erzählcafé Schweiz*.

Es gehen ständig Pflegefachpersonen aus und ein, sei es, um ein Medikament zu einer festen Zeit zu verabreichen, eine Bewohnerin zu ihrer ärztlichen Untersuchung zu begleiten oder einen Bewohner in die Gruppe einzufügen, der erst später vom Mittagsschlaf aufgewacht ist. Es sind also laufend Anpassungen notwendig. Am häufigsten betreffen sie die folgenden vier Aspekte:

  • Tempo: Im Alter nimmt das Tempo ab. Man muss sich den älteren Menschen also auf eine besondere Art und Weise zuwenden, ihnen Zeit lassen, die Frage zu verarbeiten, die richtigen Worte zu finden, und wenn nötig umformulieren und die Fragen einfacher fassen.
  • Roter Faden: Es ist zuweilen schwierig, den roten Faden des Erzählcafés zu behalten, sowohl im Hinblick auf das Thema, da sich die Bewohnerinnen und Bewohner auch über aktuelle Alltagssorgen austauschen wollen, als auch in chronologischer Hinsicht, da es für sie schwieriger ist, in der Gegenwart zu erzählen, geschweige denn, in die Zukunft zu blicken.
  • Wortmeldungen: Es scheint mir, dass es den älteren Menschen, die an den Erzählcafés in den Alters- und Pflegeheimen teilgenommen haben, schwerer fällt als anderen Zielgruppen, spontan das Wort zu ergreifen. Es hat geholfen, dass sich zu Beginn des Treffens alle rundum mit ihrem Vornamen vorgestellt haben und so zumindest einmal zu Wort gekommen sind. Auf diese Weise wurde ein Klima des Vertrauens geschaffen und jene Personen, die sich nicht trauten, ohne Aufforderung das Wort zu ergreifen, konnten mit ihrem Vornamen angesprochen und so dazu ermuntert werden.
  • Gehör: Viele ältere Menschen haben Hörprobleme. Es ist deshalb wichtig, laut und langsam zu sprechen. Leider reicht das aber nicht immer, weswegen manchmal Frustration und Unmut in der Gruppe aufkommt. In einer Einrichtung bekam ein Bewohner mit Hörproblemen einen Kopfhörer mit Verstärker, der mit einem Mikro verbunden war. Das Mikrofon wurde auf ganz natürliche Weise zu einem «Redestab», den die Personen, die erzählen wollten, der Reihe nach in die Hand nahmen.

Auch die Emotionen kamen bei den Treffen in den Alters- und Pflegeheimen nicht zu kurz, es wurde gelacht und geweint. «Es entstanden neue Beziehungen zwischen Menschen, die Gemeinsamkeiten in ihrer Lebensgeschichte entdeckt haben, von denen sie nichts wussten», erzählte eine Fachperson einige Tage nach dem Erzählcafé. «Es entstand eine Art freundschaftliche Verbundenheit zwischen den Personen, die teilgenommen haben, bedingt durch das Gefühl, gemeinsam etwas Besonderes erlebt zu haben.»

Text: Anne-Marie Nicole

*Johanna Kohn, «EB Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis», Heft 4, 66. Jahr, 2020, herausgegeben von der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland – Bundesarbeitsgemeinschaft e. V.