Die Erzählcafé-Moderatorin Ana Pajic erzählt im Artikel im Tagblatt vom 18. März 2023, wie sich Besucherinnen und Besucher des Forum Würth überraschen, inspirieren und berühren lassen. Im «Erzähl-Café» in Rorschach treffen sich jeden Monat fremde Menschen, um sich über Geschichten zu einem vorgegebenen Thema zu unterhalten. Zum Artikel (Online oder PDF).

Nino Züllig wanderte in jungen Jahren von Georgien nach Deutschland aus. Seit 2014 lebt sie in Basel und arbeitet als Dolmetscherin. Die Erzählcafé-Moderatorin führte mit HEKS beider Basel interkulturelle Erzählcafés durch. Menschen aus der Ukraine und Georgien haben über ihre Heimat und das Leben in der Schweiz gesprochen.

 

Erinnerst du dich an dein erstes Erzählcafé?

Nino Züllig: Ja klar! HEKS beider Basel wollte im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration älteren, zugewanderten Menschen Erzählcafés anbieten. Da ich schon länger für HEKS dolmetsche, wussten sie, dass ich Russisch spreche. Im Frühling 2022 war mein erstes Erzählcafé. Es kamen Geflüchtete aus der Ukraine und ein georgisches Ehepaar aus meinem Bekanntenkreis.

Warum habt ihr das Erzählcafé auf Russisch angeboten?

Viele Menschen in der Ukraine sind zweisprachig und sprechen neben der ukrainischen Muttersprache auch Russisch. In Georgien können sich meist die älteren Leute noch auf Russisch verständigen. Russisch bot sich als unsere gemeinsame Sprache an.

Wie fühlt sich ein Erzählcafé auf Russisch für eine Ukrainerin an?

Ich war mir bewusst, dass ich sehr vorsichtig sein muss, wenn ich ein interkulturelles Erzählcafé auf Russisch anbiete. Man kann die Politik nicht ignorieren. Normalerweise ist ein Erzählcafé etwas Entspanntes und Angenehmes. Bei meinem Setting schwingt der Krieg immer mit. Als Moderatorin muss ich viel Fingerspitzengefühl haben, damit das Gespräch im ruhigen, friedlichen Rahmen bleibt und die Leute sich wohlfühlen. Und zwar diejenigen, die gerne Russisch sprechen, als auch diejenigen, die die Sprache nicht mögen. Ich glaube, ich erfahre viel Akzeptanz, weil ich aus Georgien stamme und beide Seiten verstehe.

Was ist dein Tipp?

Oft kommt es vor, dass eine Ukrainerin während des Erzählcafés eine Nachricht von ihrem Mann im Krieg bekommt und abgelenkt ist. Ich verstehe, dass sie dann darüber reden will. Als Moderatorin muss ich darauf eingehen und es annehmen, aber dann doch zurück zum eigentlichen Thema finden. Das Erzählcafé soll ein Ort der Entspannung sein, wo man über etwas anderes reden kann. Mein Tipp an Moderierende: Das Thema langsam und vorsichtig wechseln.

Deine Lieblingsthemen?

Mein erstes Thema war «Ich in der Schweiz». Die Gruppe hat darüber sinniert, wie sie sich hier fühlen, wie es früher war und mit welchen Schwierigkeiten sie kämpfen. Ich habe dann ein anders Thema identifiziert: «Gut und günstig leben in der Schweiz». Da kam ein sehr ideenreicher Erfahrungsaustausch zustande. Als ich in den normalen Rhythmus kam, wählte ich auch fröhliche Themen wie «Schön und modisch».

An dein Erzählcafé kommen vor allem Menschen 55+. Was beschäftigt sie?

Die deutsche Sprache ist das Hauptthema. Ältere Menschen lernen nicht mehr so leicht. Je älter man wird, desto schwieriger ist Migration. Man kommt an einen Ort, wo man die Sprache nicht spricht, die Kultur nicht kennt, ins Ungewisse geht. Ich mache diese Erzählcafés von Herzen, weil ich die Sorgen der Menschen gut nachvollziehen kann.

Was hat dich am meisten überrascht?

Es gibt immer wieder Aha-Erlebnisse. Egal, wo die Menschen aufgewachsen sind, einige Dinge sind überall gleich. Wir haben einmal ein Erzählcafé mit Menschen aus der Schweiz, der Ukraine und Georgien durchgeführt. Dabei haben wir gemerkt, dass sie alle als Kind ähnliche Sachen gespielt haben und sogar ähnliche Lieblingsessen hatten. Mein Fazit: Die Welt ist klein, wir sind gar nicht so unterschiedlich.

Bild: Nino Züllig hat am Erzählcafé das Guetzlibacken zum Thema gemacht.

Zur Person

Nino Züllig studierte in Georgien Deutsch und zog schon jung nach Deutschland. 2014 folgte sie ihrem Mann nach Basel. Sie arbeitet als interkulturelle Dolmetscherin und veranstaltet regelmässig Erzählcafés. In ihrer Freizeit ist sie am liebsten mit ihrer Familie in der wilden Natur unterwegs.

Interkulturelle Erzählcafés

Seit 2022 bietet die HEKS Geschäftsstelle beider Basel im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration Erzählcafés an. Sechs interkulturelle Vermittelnde bildeten sich bei Johanna Kohn weiter und bieten seitdem Erzählcafés in verschiedenen Sprachen an. Im 2023 werden die Erzählcafés fortgeführt. Sie sind thematisch verknüpft mit anderen Angeboten von AltuM beider Basel.

 

Interview: Anina Torrado Lara

Zwischen Juni und Dezember 2022 habe ich, auf Anfrage der Stadt Genf, rund zehn Erzählcafés mit Bewohnerinnen und Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen moderiert. Eine prägende zwischenmenschliche Erfahrung, die mehr als anderswo Anpassungsfähigkeit und Kreativität im Umgang mit Unvorhergesehenem erforderte.

«Was erzählen Sie uns denn heute?» Diese Frage wird mir unweigerlich gestellt, wenn ich gebeten werde, ein Erzählcafé mit älteren Menschen durchzuführen, die in einem Alters- und Pflegeheim leben. Und zwar noch bevor ich überhaupt erklären konnte, was das Erzählcafé ist, zu dem sie eingeladen worden sind, und wie es abläuft. Jedes Mal antworte ich mit einem breiten Lächeln und beruhige: «Nicht ich, sondern Sie werden erzählen», was bei vielen Verwunderung hervorruft. Ich schliesse daraus, dass sich das Erzählen über das eigene Leben und die Erlebnisse in Alters- und Pflegeheimen eher auf Gespräche unter vier Augen beschränkt oder hinter verschlossenen Türen im Zimmer stattfindet.

Auf Anfrage der Abteilung für Kultur und Digitalisierung der Stadt Genf (Département de la culture et de la transition numérique) wurden – zeitgleich mit der Promotion der Website mirabilia.ch – Erzählcafés in Seniorenvereinen und Alters- und Pflegeheimen angeboten. Ziel war es, diese neue digitale Plattform den Seniorinnen und Senioren vorzustellen und sie auf das reichhaltige Erbe der Museen und kulturellen Einrichtungen der Stadt aufmerksam zu machen. So wurden zwischen Juni und Dezember 2022 fünfzehn Erzählcafés organisiert, die meisten davon in Alters- und Pflegeheimen. Die Themen orientierten sich an jenen der Plattform mirabilia.ch, in diesem Fall war es das Reisen.

Sich besser kennenlernen … auch wenn man sich schon kennt

Auch wenn nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich war, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Alters- und Pflegeheime freuten, am Erzählcafé teilzunehmen, so haben sie insbesondere die Möglichkeit des respektvollen Gesprächs und des wohlwollenden Zuhörens geschätzt. Zwar haben diese Treffen ihren Zweck, die Website mirabilia.ch zu bewerben, nicht voll erfüllt, sie haben den Teilnehmenden jedoch die Möglichkeit geboten, von sich zu erzählen, einander zu entdecken und besser kennenzulernen – auch wenn sie täglichen Kontakt zueinander haben.

Vor allem aber sorgten die Erzählcafés dafür, dass sich die Bewohnnerinnen und Bewohner wieder als Individuum mit eigener Identität innerhalb der Gemeinschaft fühlen. Ausserdem wurde ihren persönlichen Erzählungen Wert beigemessen, da alle aufmerksam zuhörten, ohne zu unterbrechen, zu kommentieren oder zu urteilen. «Anders als sonst üblich haben sie einander zugehört, ohne einander ins Wort zu fallen oder zu widersprechen», stellte eine Fachperson einer Einrichtung fest. Die Gesprächsregeln am Erzählcafé, die selbstverständlich erscheinen mögen, sind hier besonders wichtig.

Anpassung und Kreativität

Die Moderation von Erzählcafés mit älteren Menschen, deren funktionale, kognitive und soziale Fähigkeiten nachlassen, geht mit besonderen Herausforderungen einher. Man muss auf Unvorhergesehenes reagieren und Kreativität an den Tag legen können, «um vom geplanten methodischen Ablauf abzuweichen und wieder darauf zurückzukommen, wenn es für die Teilnehmenden einen Vorteil hinsichtlich Anerkennung, Erfahrung und Interaktion mit den anderen darstellt», erklärt Johanna Kohn, Professorin am Institut für Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und Mitglied des Teams des Netzwerks Erzählcafé Schweiz*.

Es gehen ständig Pflegefachpersonen aus und ein, sei es, um ein Medikament zu einer festen Zeit zu verabreichen, eine Bewohnerin zu ihrer ärztlichen Untersuchung zu begleiten oder einen Bewohner in die Gruppe einzufügen, der erst später vom Mittagsschlaf aufgewacht ist. Es sind also laufend Anpassungen notwendig. Am häufigsten betreffen sie die folgenden vier Aspekte:

  • Tempo: Im Alter nimmt das Tempo ab. Man muss sich den älteren Menschen also auf eine besondere Art und Weise zuwenden, ihnen Zeit lassen, die Frage zu verarbeiten, die richtigen Worte zu finden, und wenn nötig umformulieren und die Fragen einfacher fassen.
  • Roter Faden: Es ist zuweilen schwierig, den roten Faden des Erzählcafés zu behalten, sowohl im Hinblick auf das Thema, da sich die Bewohnerinnen und Bewohner auch über aktuelle Alltagssorgen austauschen wollen, als auch in chronologischer Hinsicht, da es für sie schwieriger ist, in der Gegenwart zu erzählen, geschweige denn, in die Zukunft zu blicken.
  • Wortmeldungen: Es scheint mir, dass es den älteren Menschen, die an den Erzählcafés in den Alters- und Pflegeheimen teilgenommen haben, schwerer fällt als anderen Zielgruppen, spontan das Wort zu ergreifen. Es hat geholfen, dass sich zu Beginn des Treffens alle rundum mit ihrem Vornamen vorgestellt haben und so zumindest einmal zu Wort gekommen sind. Auf diese Weise wurde ein Klima des Vertrauens geschaffen und jene Personen, die sich nicht trauten, ohne Aufforderung das Wort zu ergreifen, konnten mit ihrem Vornamen angesprochen und so dazu ermuntert werden.
  • Gehör: Viele ältere Menschen haben Hörprobleme. Es ist deshalb wichtig, laut und langsam zu sprechen. Leider reicht das aber nicht immer, weswegen manchmal Frustration und Unmut in der Gruppe aufkommt. In einer Einrichtung bekam ein Bewohner mit Hörproblemen einen Kopfhörer mit Verstärker, der mit einem Mikro verbunden war. Das Mikrofon wurde auf ganz natürliche Weise zu einem «Redestab», den die Personen, die erzählen wollten, der Reihe nach in die Hand nahmen.

Auch die Emotionen kamen bei den Treffen in den Alters- und Pflegeheimen nicht zu kurz, es wurde gelacht und geweint. «Es entstanden neue Beziehungen zwischen Menschen, die Gemeinsamkeiten in ihrer Lebensgeschichte entdeckt haben, von denen sie nichts wussten», erzählte eine Fachperson einige Tage nach dem Erzählcafé. «Es entstand eine Art freundschaftliche Verbundenheit zwischen den Personen, die teilgenommen haben, bedingt durch das Gefühl, gemeinsam etwas Besonderes erlebt zu haben.»

Text: Anne-Marie Nicole

*Johanna Kohn, «EB Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis», Heft 4, 66. Jahr, 2020, herausgegeben von der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland – Bundesarbeitsgemeinschaft e. V.

Lesen Sie den Jahresbericht 2022. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse:

  • Am 30. November 2022 wird der Verein Netzwerk Erzählcafé Schweiz mit Sitz in Taverne (TI) gegründet.
  • Das Erzählcafé wird als Intervention in die Orientierungsliste KAP 2022 aufgenommen.
  • Die Gesundheitsförderung Schweiz erklärt sich bereit, das Netzwerk Erzählcafé zwei weitere Jahre im Rahmen der Projektförderung KAP zu unterstützen.
  • Die Ergebnisse der Externen Evaluation des Netzwerks durch Interface werden in einem Faktenblatt publiziert.

Zum Jahresbericht 2022

Zu allen Jahresberichten

Vielen Dank an alle Moderatorinnen und Moderatoren, die das Buch «Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie.» an einer lokalen Vernissage vorgestellt haben. Eine davon ist Claudia Sollberger. Zu ihrem Erzählcafé mit Vernissage in Solothurn kamen Moderierende, Teilnehmende und Interessierte.

Foto: privatClaudia Sollberger freute sich sehr über den gelungenen Anlass. Sie schreibt: «Ich hätte nie gedacht, dass es möglich ist, mit so vielen Teilnehmenden ein Erzählcafé durchzuführen! Und so habe ich mich an die Worte von Gert Dressel zurückerinnert, als er einmal an einem Werkstattgespräch in Zürich davon berichtet hat, dass er in Wien mit 30 bis 40 Personen ein erfolgreiches Erzählcafé erlebt hatte.»

Die engagierte Erzählcafé-Moderatorin aus Solothurn fand es toll, wie sich sogar die Teilnehmenden aus der hintersten Reihe mit persönlichen Geschichten einbrachten. Das Thema lautete «Die Bücher in meinem Leben – persönliche Erinnerungen an das Lesen und Erzählen». Im Anschluss ans Erzählcafé stellte sie das neue Buch vor, an dem 34 Autorinnen und Autoren mitgeschrieben haben.

Überregionales Netzwerk

Mit dabei waren auch Mechthild Wand und Daniela Hersch, zwei ebenfalls sehr engagierte Moderatorinnen. Mechthild las zwei ihrer Gedichte aus dem Buch vor, was laut Claudia Sollberger die Anwesenden sehr beeindruckte. Ihr Fazit des Anlasses: «Es hat mich sehr gefreut, dass ich die Möglichkeit hatte, vor so grossem Publikum meine Leidenschaft für das Erzählcafé zum Ausdruck zu bringen.»

Möchten Sie eine Buchvernissage veranstalten? Wir unterstützen Sie mit einem Beitrag von 500 Franken.

Am 26. November haben sich in der Bibliothèque sonore romande in Lausanne rund ein Dutzend Menschen für ein erstes Erzählcafé getroffen. Und nicht nur irgendein Erzählcafé, ein inklusives noch dazu, sind doch Personen mit einer Sehbeeinträchtigung, Freiwillige der Bibliothek und Personen, die Hörbücher aufnehmen, zusammengekommen. Thema des Tages: «Unsere Geschichten rund ums Lesen». Angesichts des Erfolgs dieser ersten Ausgabe kann es gut sein, dass das Projekt weitergeführt wird. Die Co-Moderatorinnen Pascale Ernst und Florence D. Perret haben unsere Fragen beantwortet.

Interview: Anne-Marie Nicole

Wodurch wurden Sie inspiriert und motiviert, das Erzählcafé zu veranstalten? 

Das Erzählcafé wurde in der Bibliothèque sonore romande (BSR) veranstaltet, die hauptsächlich von blinden Menschen besucht wird. Die Leiterin der Bibliothek organisiert einmal im Monat literarische Apéros, an denen die Freiwilligen (die Hörbücher aufnehmen) und diejenigen, die Hörbücher ausleihen, zusammenkommen. Florence, die privat an einer dieser Veranstaltungen teilgenommen hat, schlug der Leiterin dann das Konzept Erzählcafé vor. Unser Ziel war es, die Teilnehmenden zu ermuntern, ihre Geschichten rund ums Lesen zu erzählen.

 

Welche Geschichten wollten Sie sichtbar machen?

In einem ersten Gespräch mit der Leiterin der BSR besprachen wir die Fragen, die wir im Rahmen des Erzählcafés stellen wollten. Sie bat uns, diese so zu gestalten, dass sich die Leserinnen und Leser sowie die Hörerinnen und Hörer über ihre jeweiligen besonderen Erfahrungen austauschen können. Wir hatten eher klassische Fragen vorbereitet, über den Einfluss von Büchern in ihrem Leben. Wir hielten uns also an die Struktur der «gewöhnlichen» Erzählcafés und haben diese gleichzeitig um die persönlichen Erfahrungen beim Vorlesen und beim Hören eines Buchs ergänzt.

 

Wie haben Sie das Erzählcafé barrierefrei gestaltet? 

Da sehbehinderte Menschen am Erzählcafé teilnahmen, haben wir der Stimme einen besonderen Stellenwert eingeräumt. Wir begannen deshalb mit einer Vorstellungsrunde, in der alle nacheinander ihren Vornamen nannten und erzählten, was sie gerade lesen oder vor kurzem gelesen haben. So konnte der Kreis gebildet und den sehbehinderten Teilnehmenden räumliche Orientierung ermöglicht werden.

 

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert und wie haben Sie diese gemeistert? 

Da wir zu zweit moderierten, konnten wir uns bei den verschiedenen Phasen des Erzählcafés abwechseln, was wirklich angenehm war. Ausserdem haben wir abwechselnd ausführlich erklärt, welche Regeln gelten. Wir hatten einen reichen und vielseitigen Gesprächsfaden vorbereitet. Uns war es wichtiger, dass ein qualitativer Austausch zustande kommt, als möglichst viele Fragen zu stellen. Wir haben die Moderation deshalb an die Teilnehmenden angepasst und auf manche Fragen verzichtet.

 

Erinnern Sie sich an einen besonders schönen Moment?

Wir hatten eine Frage zum sinnlichen Aspekt von Büchern vorbereitet. Aber einige Personen hatten das Thema bereits angesprochen, bevor wir die Frage überhaupt gestellt hatten. Diese Übereinstimmung der Wellenlängen zu erleben war wunderbar! Fast alle Teilnehmenden zeigten zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Verletzlichkeit, das waren ganz besondere Momente. Die Freiwilligen, die Sehbehinderten und ihre Begleitpersonen, sie alle haben sehr bewegende Bucherlebnisse aus ihrem Leben geteilt.

Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz wird zum Verein. Das bisherige Projektteam wird auch in Zukunft sorgsam moderierte Erzählcafés fördern.

Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz wurde 2015 als Kooperationsprojekt zwischen dem Migros-Kulturprozent und der Fachhochschule Nordwestschweiz initiiert. In den letzten Jahren hat es sich zu einem nationalen Netzwerk von Personen entwickelt, die sich von der Methode des Erzählcafés inspirieren lassen.

Während seiner Pilot- und Aufbauphase wurde es eng durch das Migros-Kulturprozent begleitet. Es sieht im Netzwerk Erzählcafé einen wichtigen Akteur, um den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz zu stärken.

Das Migros-Kulturprozent nimmt aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf und setzt befristete Impulse. Nun entwickelt sich das Netzwerk Erzählcafé mit einer neuen Trägerschaft zu einem eigenständigen Verein weiter. Es wird während den Jahren 2023 und 2024 weiterhin vom Migros-Kulturprozent finanziell gefördert.

Gerne informieren Rhea Braunwalder und Marcello Martinoni Sie persönlich über die Veränderungen:

Montag, 5. Dezember 2022, 12.30 bis 13.30 Uhr, über Zoom

Wir freuen uns, wenn Sie das Netzwerk in der neuen Form weiterhin unterstützen. Bei Fragen stehen Ihnen Marcello Martinoni (Italienisch), Anne-Marie Nicole (Französisch) und Rhea Braunwalder (Deutsch) zur Verfügung.

Endlich ist es soweit: Unser Buch «Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie.», an dem 34 Autorinnen und Autoren mitgeschrieben haben, wurde veröffentlicht. Sie können es über den Beltz-Verlag bestellen (26 Euro).

Das Buch richtet sich an freiwillig Engagierte sowie Fachpersonen aus Sozialer Arbeit, Bildungsarbeit, Alters- und Jugendarbeit, Pflege, Hospiz- und Palliativbereich, Gesundheitsförderung, Quartiersarbeit sowie Kulturarbeit und -vermittlung. Vor allem jene, die Erzählcafés bereits moderieren oder anbieten, erhalten Einblicke in Praxis und Theorie.

Die Herausgeber*innen Jessica Schnelle, Johanna Kohn und Gert Dressel haben dieses Publikationsprojekt seit 2019 sorgfältig geplant und umgesetzt.

Lokale Buchvernissagen

Haben Sie die Möglichkeit, eine kleine Vernissage oder Lesung in Ihrer Region zu organisieren? Wir unterstützen Sie dabei und sind dankbar für Ihre Initiative. Hier erfahren Sie mehr

Das Netzwerk Erzählcafé war im Juni 2022 zu Gast im Schlossgarten Riggisberg. Die Erzählcafé-Moderatorin Nisha Andres erzählt, wie sie über Erzählcafés die Bewohnenden und die Dorfbevölkerung zum ungezwungenen Austausch an einen Tisch bringt.

Interview: Anina Torrado Lara

Im idyllisch gelegenen Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohnerinnen und Bewohner.

Welchen Bezug haben Sie zu Erzählcafés?

Nisha Andres: Beim Schlossgarten Riggisberg haben wir bereits vor der Pandemie erste Erfahrungen mit Erzählcafés gesammelt. Deshalb hat es uns besonders gefreut, dass das Werkstattgespräch vom 2. Juni 2022 bei uns zu Gast war! Ich moderiere selber Erzählcafés und finde die Methode sehr gut geeignet, um sich ungezwungen zu treffen und Barrieren in den Köpfen abzubauen.

Wie tun Sie das im Schlossgarten?

Inklusion ist unsere Kernkompetenz. Der Schlossgarten ist nur eine kurze Entfernung vom Dorf Riggisberg entfernt und bietet viele Anknüpfungspunkte, um in Kontakt zu kommen: Vom Eggladen über das Restaurant Brunne bis zu Veranstaltungen wie dem Ostermärit, dem Open Air Kino oder dem Sommerfest bieten wir ein grosses Angebot. Unser Konzept ist darauf ausgelegt, Barrieren abzubauen. So kommen Schülerinnen und Schüler ganz selbstverständlich zum Schwimmunterricht, einige Kinder aus dem Dorf besuchen unsere Kita und wir bieten selber hergestellte Produkte auf den Märkten an. Einige Dorfbewohner*innen haben leider immer noch Hemmungen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die vermeintlich anders sind.

Wie gehen die Bewohnenden mit diesen Barrieren in den Köpfen um?

Eine unserer Bewohnerinnen sagte einmal: «Es braucht einfach einen ersten Satz, ein erstes Lächeln, um Barrieren abzubauen.» Wir arbeiten jeden Tag daran, den Austausch aktiv zu fördern. Das gelingt auch an den Erzählcafés gut, denn sie ermöglichen es, eine höfliche, respektvolle und offene Kommunikation zu pflegen.

Was haben Sie vom Werkstattgespräch mitgenommen?

Es war ein sehr schöner Tag, an dem Inklusion auf einem hohen Niveau gelebt wurde. Es kamen so viele interessante Menschen und wir freuten uns über Gastbeiträge von Johanna Kohn und Gert Dressel. Mit dabei waren auch taubstumme Menschen mit Dolmetscher*innen, Personen im Rollstuhl und Bewohner*innen des Schlossgartens mit psychischen Erkrankungen. Einer der Bewohner sagte: «Ich hätte nicht gedacht, dass man mit taubstummen Menschen so intensiv ins Gespräch kommen kann! Ich habe realisiert, dass es noch andere Menschen mit einer Beeinträchtigung gibt.»

Ihr persönlicher Tipp fürs Erzählcafé?

Keine Angst davor haben, etwas Falsches zu sagen! Auch mir geht es manchmal so, dass ich unsicher bin. Ich möchte andere ermuntern, zu ihrer Unsicherheit zu stehen und ehrliche Gedanken zu formulieren. Nicht viel überlegen, sondern einfach fragen: «Ich bin mir gerade unsicher, wie darf ich dich nennen?» oder «Soll ich die Dolmetscherin oder die Person anschauen, die gerade redet?». Als Moderatorin habe ich auch die Aufgabe, den Elefanten im Raum anzusprechen. Dann sage ich manchmal: «Ich nehme gerade eine Irritation wahr, geht’s euch auch so?».

Der Schlossgarten Riggisberg war Gastgeber für die Werkstatttagung des Netzwerks Erzählcafé (Foto: Rhea Braunwalder)

Schlossgarten Riggisberg

Im Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohner*innen mit einer psychischen und/oder körperlichen Beeinträchtigung. 350 Mitarbeitende sind beschäftigt. Die Bewohnenden können an einem Beschäftigungsplatz in den Betrieben mitarbeiten: Im Werkhaus werden Versände vorbereitet, Wahl- und Stimmunterlagen eingepackt oder Produkte fabriziert. Eine Gärtnerei pflegt die Liegenschaft und zieht Kräuter. Auch die Mitarbeit in der Küche, im Restaurant oder im Glaswerk werden geschätzt. Kreativität kann in Ateliers, der Manufaktur und in der niederschwelligen Arbeitsintegration gelebt werden.

Zur Person

Nisha Andres (Foto: zVg)

Nisha Andres ist seit 2016 Teil des Schlossgartens Riggisberg. Als Fachverantwortliche Beratung und Integration ist sie Ansprechperson für Bewohnende und Mitarbeitende, die herausfordernde Situation erleben. Nach ihrer Ausbildung zur Detailhändlerin bildete sie sich berufsbegleitend zur Sozialpädagogin weiter. Seit 2002 ist sie in verschiedenen sozialen Institutionen tätig. Sie hat viel Erfahrung im Umgang mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, psychischen Erkrankungen und in palliativen Situationen.

Am 26. August 2022 trafen sich 20 Moderierende im Haus der offenen Jugendarbeit der Stadt Wil zum Austausch und zur Reflexion. Der Tag dreht sich rund um Rassismus und um Erzählcafés mit Jugendlichen. Ein Rückblick von Rhea Braunwalder, Moderatorin und Projektmitarbeiterin des Netzwerks Erzählcafé Schweiz.

Text: Rhea Braunwalder

Wie kam es zur Auswahl des Orts?

In Wil (SG) entstand vor rund einem Jahr eine sehr aktive Gruppe von Moderierenden, die sich auf Initiative der Fachstelle Integration der Stadt Wil gebildet hat. Im Rahmen der Aktionswochen gegen Rassismus (März 2022) fanden in Wil gleich mehrere Erzählcafés zum Thema «Dazu gehören» statt. Es ging um Geschichten rund um das Zugehörigkeitsgefühl – nicht nur zu einem Land, aber auch zu Gruppen von Freunden, Vereinen oder Familien. Da ich bei den Moderierenden sehr viel Energie und Motivation spürte, war für mich klar, dass die diesjährige Intervision hier stattfinden sollte. Ich fragte Jara Halef von der Jugendarbeit Wil, ob sie uns einen Raum zur Verfügung stellen könnte.

Wie gestaltete sich der Tag?

Wir begannen am Vormittag mit einem Podium mit unseren Gastgeberinnen Jara Halef (Jugendarbeiterin bei der Stadt Will) und Katarina Stigwall (Leiterin und Beraterin bei der HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung). Die beiden Referentinnen gaben Einblicke in ihre Arbeitswelt. Sie sind sich einig, dass das Erzählen über Rassismus, egal in welchem Setting, ziemlich schwierig ist. «Bis die Menschen überhaupt den Mut fassen, zur Beratungsstelle zu kommen, braucht es ziemlich viel», so Katarina Stigwall. Hingegen sei man beim Erzählcafé in einem geschützten Rahmen. Im Erzählcafé von Jara Halef erzählten einige Jugendliche von ihren Erfahrungen, nicht dazuzugehören.

Nach dem Podium gingen wir gemeinsam zum Mittagessen, wo viel Zeit für individuelle Gespräche blieb. Die Moderierenden besprachen untereinander ihre nächsten Erzählcafés, holten sich Inputs für Themen und Fragenstellungen und teilten eigene Geschichten aus dem Leben.

Am Nachmittag haben wir im Intervisionsformat in Kleingruppen individuelle Fälle genauer besprochen. Fragen wie «Was macht man, wenn Personen negative Schlüsse aus ihren Erlebnissen ziehen?» und «Wie gehen wir mit Medienschaffenden und ihren Berichten über unsere Erzählcafés um?» wurden intensiv diskutiert.

Was habe ich mitgenommen?

Das Interesse der Moderierenden am Thema Jugendliche und Rassismus war gross. Ich nehme mit, dass eine gute Moderation nicht nur mit Moderationsfähigkeiten zusammenhängt: Je mehr wir für Diversitätsthemen sensibilisiert sind und je besser wir uns in die Gefühls- und Lebenswelten unserer Erzählenden hineinversetzen können, desto feinfühliger können wir in der Moderation sein. So ist es mir ein Anliegen, im Netzwerk die Diversität in Bezug auf Gender, Sexualität, Herkunft und psychische wie physische Fähigkeiten zu thematisieren.

 

Zu den Personen

Katarina Stigwall ist Leiterin der HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung und entwickelte ein Kartenset, das zum Reflektieren über Rassismus im Alltag anregt. Auf der einen Seite stehen Sätze, die auf den ersten Blick ganz unbefangen erscheinen, auf der Rückseite werden die Sätze historisch und gesellschaftlich kontextualisiert und erhalten so eine grössere Bedeutung. Das Kartenset eignet sich als Gesprächsgrundlage für Workshops. Für mehr Informationen wenden Sie sich an die Beratungsstelle.


Jara Halef ist Jugendarbeiterin bei der Stadt Wil. Sie schätzt den ungezwungenen und lockeren Umgang mit Jugendlichen, ohne Erwartungen oder Leistungsdruck.