Nicht immer läuft im Leben alles rund. Menschen fallen durch die Maschen, verlieren ihren Job, die Wohnung, ihr soziales Umfeld. Das neue Erzählcafé im Gassencafé Sunestube sorgt dafür, dass Menschen, die auf den Gassen Zürichs leben, in einem vertraulichen Rahmen von ihren Erlebnissen erzählen können.

Die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber in Zürich ist eine Anlaufstelle für Menschen in Not. Im Gassencafé Sunestube finden diese ein warmes Wohnzimmer, eine gute Mahlzeit, Raum für soziales Kontakte und Unterstützung. Seit kurzem trifft man sich dort regelmässig zum Erzählcafé.

Der Funke sprang sofort über

«Alles begann damit, dass eine unserer Mitarbeiterinnen den Informationsanlass des Netzwerks Erzählcafé besuchte und begeistert zurückkam. Sie fand die Idee, ein solches Format mit den Gästen der Sunestube auszuprobieren, äusserst verlockend», erzählt Christine Diethelm, Leiterin des Gassencafé Sunestube und Gassenarbeit. Begeistert habe die Mitarbeiterin das Gehörte im Team präsentiert. Der Funke sprang sofort über. «Unsere Stiftung ist geprägt von Werten wie Wertschätzung, sich auf Augenhöhe begegnen und Menschenwürde. Diese Werte widerspiegeln sich in der Haltung des Miteinander eines Erzählcafés», sagt Diethelm. Und da die Stiftung immer wieder auf der Suche nach neuen Möglichkeiten sei, die Gäste mit in die Gemeinschaft einzubinden, sei die Freude an der Umsetzung sofort da gewesen.

Kraft, die zum Leben ermutigt

Sich in einer Gemeinschaft eingebunden zu fühlen, ist laut Diethelm ein Grundbedürfnis des Menschen. «Wer mehrheitlich am empfangenden Ende einer Unterstützung ist, hat es schwer, denn es belastet das Gemüt. Umso wichtiger ist es, sich auszutauschen.» Sie ist überzeugt, dass das Erzählcafé eine geniale Möglichkeit sei, um Erlebtes in einem vertraulichen Rahmen zu erzählen. Diethelm: «Die eigene Geschichte bekommt einen wertschätzenden Raum. Und im respektvollen Zuhören liegt eine Kraft, die zum Leben ermutigt.»

Die Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Gassen Zürichs sind, schätzen das Erzählcafé. Sie kommen, reden über ein Alltagsthema, erzählen von persönlichen Erlebnissen und trinken zusammen einen Kaffee. «Man merkt, wie die Teilnehmenden erstaunt und berührt sind, zu hören, welche Erfahrungen andere zu einem Thema gemacht haben», so Diethelm. «Wir sind immer wieder erstaunt über die Fülle an Erfahrungen, die beim Erzählen zum Vorschein kommen – und wie unsere Gäste sich auch schwierigen Erfahrungen stellen.»

Einblick in bewegte Biographien

Die Leiterin der Sunestube nennt ein Beispiel: «Eine Frau erzählte ihre sehr persönlichen Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend. Sie kommt aus schwierigsten Verhältnissen und wurde als Jugendliche bereits mehrmals Mutter. Ihre Erzählungen haben auch uns als Team geholfen, ihr Verhalten in der Gemeinschaft besser zu verstehen und dementsprechend für sie da zu sein.»

Wird an einem Erzählcafé in der Sunestube auch mal gelacht? Ja, sagt Diethelm und schmunzelt. «Ich staune immer wieder, wie humorvoll unsere Gäste trotz traumatischer Vergangenheit und schwierigen Lebensumständen unterwegs sind.» Der gegenseitige Respekt an einem Erzählcafé helfe, von schweren Erlebnissen plötzlich zu ermutigenden oder sogar lustigen Momenten zu wechseln.

Im Gassencafé Sunestube in Zürich sind alle Menschen willkommen (Foto: Sozialwerk Pfarrer Sieber).

Über das Gassencafé Sunestube

Die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber wurde 1988 von Pfarrer Ernst Sieber gegründet. Bis zu seinem Tod im Jahr 2018 kämpfte er gegen das Drogenelend in Zürich und für die Versorgung von randständigen Menschen. Die Stiftung finanziert sich aus Leistungen von Krankenkassen und Sozialämtern sowie Spenden, Erbschaften und Legaten. Neben dem Gassencafé betreibt sie mehrere Notschlafstellen, Wohngruppen, einen Gassentierarzt, eine Sozialberatung und eine Anlaufstelle, wo Bedürftige Kleider und Essen beziehen können. Das Gassencafé zählte im letzten Jahr 22’817 Besuche. Dort können Menschen verweilen, eine einfache Mahlzeit essen und die Gesellschaft anderer geniessen.

 

Reportage: Anina Torrado Lara
Foto: Sozialwerk Pfarrer Sieber

In einem vertrauten Rahmen unter Frauen erzählen, Erfahrungen austauschen und Kontakte festigen: Im Erzählcafé der Aida Sprachschule für fremdsprachige Frauen wird das englische Sprichwort «to let your hair down» (aus sich herausgehen, sich gehen lassen) im wortwörtlichen Sinn gelebt. Natalie Freitag erzählt, wie das vonstatten geht.

Frau Freitag, welche Art von Erzählcafé bieten Sie an?

Natalie Freitag: An der Aida St.Gallen findet jeden Freitagnachmittag ein Erzählcafé statt. An diesem «Freitagscafé» verwandelt sich die Cafeteria unserer Schule zum offenen Treffpunkt für Kursteilnehmerinnen, deren Freundinnen und Kinder. Ausserdem findet hier einmal pro Monat das Erzählcafé «Aida erzählt» statt, wo auch Bekannte und interessierte Frauen deutscher Muttersprache eingeladen sind. Das Erzählcafé wird im Rahmen unseres Kursangebots beworben, von Mitarbeiterinnen der Sprachschule moderiert und intern finanziert. Die Teilnahme ist für die Frauen kostenlos.

Was hat Sie motiviert, ein Erzählcafé anzubieten?

Wir haben gemerkt, dass sich die Kursteilnehmerinnen auch ausserhalb des strukturierten Rahmens ihrer Sprachkurse austauschen wollen. Deshalb haben wir an einen offenen Treffpunkt gedacht, der auch für ehemalige Teilnehmerinnen oder für Frauen, für die keine unserer Kurse wirklich passen, offen ist. Um die soziale Integration der Frauen zu unterstützen, öffnen wir das Erzählcafé auch für Frauen mit deutscher Muttersprache.

Wie gehen Sie mit den unterschiedlichen Sprachen um?

Wir sprechen im Erzählcafé Hochdeutsch. Das dient der Sprachförderung und dem Gemeinschaftssinn. Die teilnehmenden Frauen sollten mindestens gute Grundkenntnisse haben. Einzelne Erzählcafés werden nur für höhere Sprachniveaus ausgeschrieben. Damit möchten wir erreichen, dass sich Frauen treffen, die in etwa denselben Sprachstand haben.

In der Einleitung zum Artikel steht, dass das englische Sprichwort «to let your hair down» im wortwörtlichen Sinn gelebt wird. Können Sie unseren LeserInnen verraten, worauf wir uns beziehen? 

Es gibt bei «Aida erzählt» immer wieder sehr berührende Momente. Einmal hat eine Frau sich der Gruppe so geöffnet, dass sie ihr Kopftuch abnahm und ihre schönen langen Haare zeigte. Darauf bezieht sich der Hinweis in der Einleitung. Ansonsten geht es bei uns eher gelassen und gelöst zu und her. Nach dem moderierten Teil wird viel gelacht, geplaudert und gegessen.

Interview: Rhea Braunwalder
Foto: Unsplash

Die Sprachschule Aida

Der Verein Aida St.Gallen fördert die Bildung und Integration fremdsprachiger Frauen und Kinder. Ein Angebot an kulturellen Workshops, ein Lernstudio mit Bibliothek, Sprachkurse und das Freitagscafé sind Teil des vielfältigen Angebots. Die Sprachkursleiterin Natalie Freitag organisiert und moderiert zusammen mit Madlon Krüsi das Freitagscafé, das sich jeweils um Alltagsthemen aus dem Familienleben dreht. Das Freitagscafé ist für alle Frauen offen, Kinder dürfen mitkommen und selbständig im Raum spielen. Die nächsten Daten finden Sie hier.

 

Wie sah eigentlich der Schulalltag früher aus? In Basel tauschen sich Eltern über ihre Lerngeschichte aus. Lars Wolf vom Verein ELTERNNETZ Margarethen in Basel erzählt vom innovativen Integrationsprojekt, das acht Kindergärten und zwei Schulhäuser bewegt.

Wie läuft ein Erzählcafé bei Ihnen ab?

Lars Wolf: Die Erzählcafés finden immer im Rahmen unserer Elternforen statt. Die Mütter und Väter treffen sich in der Schule ihrer Kinder und teilen miteinander ihre individuelle Bildungsgeschichte. Dabei geht es um Dinge, die immer noch gleich sind, und um Dinge, die längst passé sind. Oder anders gesagt: Um Naturschwämme, Tintenpatronen und den Matrizendrucker, aber auch um die sozialen Bedingungen, unter denen Bildung früher möglich war. Dass die Eltern aus verschiedenen Kulturkreisen stammen, macht das Geschichtenerzählen natürlich extrem spannend!

Was entsteht aus einem solchen Erzählcafé?

Sehr spannende Begegnungen! Eltern aus unterschiedlichen Kulturen und sozialen Umfeldern kommen in Kontakt. Normalerweise verbindet sie im Alltag nur die Tatsache, dass ihre Kinder dieselbe Schule besuchen. Mit dem Erzählcafé fördern wir den vertrauensvollen und wertschätzenden Umgang auf Augenhöhe und somit die Integration. Eine Mutter aus Finnland meinte am Ende eines Erzählcafés, sie selbst sei in einem sehr homogenen Umfeld zur Schule gegangen. Ihre Tochter hingegen wisse von so viel anderem zu berichten, wenn sie aus der Schule nach Hause komme. Jetzt habe sie diese Vielfalt hier im Erzählcafé auch erleben dürfen – und das sei grossartig!

In welcher Sprache wird kommuniziert?

Die Erzählsprache ist Deutsch, doch es stehen jeweils Dolmetscher zur Verfügung. Wir wollen, dass alle Eltern Zugang haben und keine Sprachbarriere entsteht. Es ist den Eltern aber ein Bedürfnis, ihre Geschichten in der für sie fremden Sprache zu erzählen.

Muss man sich auf das Erzählcafé vorbereiten? 

Nein, überhaupt nicht! Auch Eltern mit einem geringeren Bildungshintergrund kommen, denn das Format suggeriert nicht, dass man für die Teilnahme etwas Bestimmtes wissen oder können muss.

Was erreichen Sie mit den Erzählcafés?

Wir schaffen Nähe im Quartier und bringen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur, Religion, Bildung und Schicht zusammen. Brachliegende Potenziale werden erkannt und durch die Resonanz der anderen bekräftigt. Die Eltern fühlen sich in ihrer Kompetenz bestätigt und schliessen neue Bekanntschaften. Ausserdem wird das Vertrauen der Eltern in die Bildungsinstitution Schule gestärkt.

Wie kann die Moderation das Eis brechen? 

Wir drucken jeweils Fotos aus und legen sie auf den Boden. Einmal hat eine Aufnahme einer Schule in Eritrea einen Erzähler derart in Begeisterung versetzt, dass er während des Erzählens aufsprang und das Bild vom Boden aufhob, um es uns allen in seiner Freude zu zeigen. In solchen Momenten spüre ich, dass unser Erzählcafé viel zu bewegen vermag.

Erzählcafés in der Schule

Der Verein ELTERNNETZ Margarethen in Basel veranstaltet drei- bis viermal jährlich ein Elternforum mit Workshops, Seminaren und Vorträgen zu erziehungsrelevanten Themen. Diese Veranstaltungen werden mit Erzählcafés ergänzt. Angesprochen werden die Eltern von Kindern aus zwei Primarschulhäusern und acht Kindergärten.

Die Erzählcafés unterstützen die pädagogischen Anliegen der Schule und leisten einen wichtigen Beitrag zur Integration im Quartier. Die Anlässe werden jeweils von zwei Personen moderiert. Im ersten Teil werden die Eltern in ihren eigenen Schul- und Lerngeschichte zurückgeführt, während im zweiten, informellen Teil ein lebendiger Austausch entsteht.

In der Seniorenresidenz Dörfli in Solothurn tauschen sich die Bewohnerinnen und Bewohner regelmässig über besondere Momente im Lebenslauf aus. Geplant und organisiert werden die Erzählcafés von einem dreiköpfigen Team. 

Auf dem Tisch stehen Mineralwasser, Salzstengeli und Toblerone-Schoggi bereit. Die Teilnehmenden machen es sich gemütlich. Einmal pro Monat treffen sie sich zum Austausch über vergangene Zeiten.

An diesem Donnerstagnachmittag geht es ums Thema «Wie erlebte ich die Zeit im 2. Weltkrieg». Ein Herr nimmt ein Toblerone-Schöggeli in die Hand und erzählt, dass man die Panzersperren aus dem 2. Weltkrieg im Vallée de Joux «Les Toblerones»* nannte. Eine Dame erinnert sich an die Bombardierung Schaffhausens, eine andere an die Lebensmittel-Rationierung.

Die Initiative ergreifen und dranbleiben

Drei aufgestellte Seniorinnen im Dörfli haben die monatlichen Erzählrunden initiiert, um einen Raum zu schaffen, in dem sich die Mitbewohnenden näher kennen lernen können. Durch das neue Format konnte der Zusammenhalt in der Residenz nachhaltig gestärkt werden.

In kürzester Zeit bildete sich das Er-Zu-Team (Erzählen-Zuhören), das gemeinsam und selbstorganisiert die Termine und Themen festlegt. Die Idee und das Format mussten sich im Dörfli zuerst etablieren: Anfangs waren die Dörfli-Bewohnerinnen und -Bewohner noch zurückhaltend. Langsam sprach sich dann herum, dass die Erzählrunden Spass machen. Heute nehmen ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner an den Erzählrunden teil. Jede Geschichte aus dem Leben – sei sie zu Knickebockern, Schulstreichen, Vorbildern aus der Jugend oder die Kommunikation vor dem Internet-Zeitalter – motiviert das Organisationsteam, weitere belebte und beliebte Anlässe zu organisieren.

Regelmässigkeit und ein gutes Team

Ein Erzählcafé selber zu organisieren und zu etablieren braucht Wille und Kraft. In einem Team kann man sich gegenseitig unterstützen und inspirieren. Besonders am Anfang, wenn es nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat. Die Erfahrungen des Er-Zu-Teams zeigen ganz deutlich: Dranbleiben lohnt sich! Beworben werden die Erzählrunden übrigens durch selbstgestaltete Flyer, die das Er-Zu-Team einige Tage vor dem Anlass an den Haustüren anbringt.

*Les Toblerones

Der Tobleroneweg (Sentier des Toblerones) ist ein 17 Kilometer langer Schweizer Lehrpfad und Wanderweg. Er führt entlang der Verteidigungslinie im Kanton Waadt, die vor dem zweiten Weltkrieg zum Schutz vor einer Invasion aus dem Westen gebaut wurde. Die Panzersperre mit ihren Höckern erinnert an die Schokoladenmarke Toblerone.

 

In den Herbstferien organisiert die Moderatorin Daniela Hersch ein Erzählcafé im Centre socioculturel de Prélaz-Valency. Die jugendlichen Teilnehmenden werden ermutigt, ihre Erfahrungen und Geschichten übers Quartier auszutauschen.

 

Daniela, erzähl uns deine Idee!

Daniela Hersch: Mein Projekt richtet sich an eine Gruppe von Jugendlichen, die regelmässig ins soziokulturelle Zentrum Prélaz-Valency in Lausanne kommen. Mit dem Sozialpädagogen Franco De Guglielmo haben wir schon 2014 in einem anderen Quartierzentrum autobiografische Schreibworkshops mit Jugendlichen durchgeführt. Nun möchten wir die Jugendlichen von Prélaz-Valency dazu ermutigen, über ihre Verbindung zum soziokulturellen Zentrum und die Werte, die sie dort entwickeln, nachzudenken. Ausserdem werden sich die Jugendlichen Geschichten über ihren Platz im Quartier und der Stadt erzählen.

Was sollen junge Menschen aus dem Erzählcafé mit nach Hause nehmen?

Ich glaube, dass das Zentrum ein sicherer Ort für die Jugendlichen ist, an dem sie verschiedene Arten von Beziehungen zu anderen erleben können. Die Reflexion der eigenen Vergangenheit und die Planung der Zukunft gehen einfacher mithilfe eines Erzählcafés. Das Erzählcafé ist für mich ein Pilotprojekt. Wenn es sich als erfolgreich erweist, organisieren wir noch mehr Veranstaltungen dieser Art. Unser Ziel ist es auch, mit den Jugendlichen ein kleines Buch zu erarbeiten – falls wir die Mittel für die Produktion auftreiben können!

Zur Person
Daniela Hersch verbrachte ihre Kindheit in Zürich und lebt seit 1980 in Lausanne. Dort arbeitete sie mehr als 30 Jahre lang als Heilpädagogin in verschiedenen Institutionen. Im Jahr 2013 absolvierte sie eine Ausbildung zur Lebensgeschichtensammlerin an der Universität Freiburg und nutzt diese neuen Fähigkeiten gerne in verschiedenen Kontexten.

Förderprogramm «Inspiration 2019»

Im Jahr 2019 fördern wir Erzählcafés, deren Zielgruppen bisher wenig berücksichtigt und angesprochen wurden und/oder deren Rahmen innovativ ist. Wir unterstützen die Erzählcafés in Form eines Porträts auf unserer Website und einem einmaligen Förderbeitrag in der Höhe von 500 Franken. Erfahren Sie mehr!

 

Foto: www.facebook.com/akupe1004

Zusammen durch Solothurn schlendern, bei barocken Bauwerken Halt machen und sich Geschichten aus dem Leben erzählen: Claudia Sollberger verbindet die Stadtführung mit einem Erzählcafé. Die innovative Idee überzeugte nicht nur das Tourismusbüro, sondern auch uns.

Claudia Sollberger (links) und die Teilnehmenden erzählen sich Stadtgeschichten.

Frau Sollberger, wie läuft Ihr Erzählcafé ab?

Claudia Sollberger: Ich spaziere mit Personen aus unterschiedlichen Generationen zusammen durch Solothurn. An verschiedenen Orten der Stadt machen wir Halt. Ich erkläre die Sehenswürdigkeiten und fordere die Gruppe dann auf, selber Erlebnisse zu erzählen. Manchmal ist es der Marktplatz, manchmal eine Kathedrale oder ein Restaurant, das uns als Inspirationsquelle dient.

Dann sind Sie auch Stadtführerin?

Ja! Ich arbeite schon länger als Stadtführerin und hatte die Idee, den Rundgang mit dem Erzählcafé zu verbinden. Die Menschen haben so sehr persönliche Gespräche. Am Schluss der Führung trinken wir dann noch etwas zusammen.

Was erzählen Teilnehmende am Erzählcafé?

Während dem Rundgang erzählen sich die Teilnehmenden persönliche Erlebnisse, die ihnen ohne die inspirierende Atmosphäre in der Stadt vielleicht gar nie eingefallen wären. Als ich beispielsweise die Legende des tapferen Bauern erzählte, der 1382 Solothurn gerettet hatte, erinnerten sich viele an eine eigene gute Tat in ihrem Leben.

Erzählen Sie uns von einem lustigen Moment.

Wir standen auf dem Marktplatz. Ich erzählte der Gruppe vom schönen Markt, auf dem die Solothurnerinnen und Solothurner zweimal wöchentlich frische Produkte einkaufen. Eine Teilnehmerin lachte und sagte, dass sie selber einmal Marktfrau war und selbstgemachte Konfitüre anbot. Das Blatt wendete sich aber und sie musste ihre Konfi zwei Jahre lang selber verzehren. Wir mussten alle herzlich lachen.

Gibt es auch traurige Momente?

Natürlich. Einmal regnete es in Strömen und wir sprachen über den Weissenstein, den Solothurner Hausberg auf 1291 M.ü.M. Ein älterer Mann erzählte von einer Reise, auf der eine Person starb. Die Reisegruppe führte die Reise weiter, weil der Verstorbene dies so gewünscht hatte. Mit grosser Andacht hörten alle zu – Regen und Kälte waren auf einmal vergessen. Es entstand eine unglaublich magische und vertrauensvolle Atmosphäre. Dieser Moment wird mir immer in Erinnerung bleiben.

Zur Person

Claudia Sollberger arbeitet unter anderem als Stadtführerin und Moderatorin von Erzählcafés. Als sie die Idee «Stadtführung plus Erzählcafé» dem Tourismus Solothurn vorstellte, waren diese begeistert und nahmen ihre Stadtführung ins Jahresprogramm auf.

 

Förderprogramm «Inspiration 2019»

Im Jahr 2019 fördern wir Erzählcafés, deren Zielgruppen bisher wenig berücksichtigt und angesprochen wurden und/oder deren Rahmen innovativ ist. Wir unterstützen die Erzählcafés in Form eines Porträts auf unserer Website und einem einmaligen Förderbeitrag in der Höhe von 500 Franken. Erfahren Sie mehr!

Johanna M. Schlegel versammelt regelmässig Menschen aller Generationen um einen grossen Holztisch. Mit dabei hat sie Selbstgemachtes: Kuchen, Guetzli und Fruchtsäfte. Der 3o0-jährige Burgdorfer Gewölbekeller bietet das ideale Ambiente, um Geschichten von früher und heute zu verknüpfen.

 

Frau Schlegel, was hat Sie inspiriert, das Erzählcafé zu veranstalten?

Johanna M. Schlegel: Geschichten erzählen, Zuhören und das Erlebte zeitgeschichtlich einzuordnen hat mich schon immer fasziniert. Vor einem Jahr habe ich einen Artikel über die Methode Erzählcafé gelesen und mich sofort zu einem Kurs angemeldet.

Erzählen Sie uns über einen lustigen Moment. 

Das war, als wir über «meine erste Uhr» sprachen. Eine Teilnehmerin erzählte, ihre erste Uhr sei eine «Stilluhr» aus der Wundertüte vom Kiosk gewesen. Wir anderen hatten keine Ahnung, was das sein soll. Sie erklärte dann, sie habe die Uhr so genannt, weil sie aus Plastik gewesen sei und nicht ticken konnte. Wir haben herzlich darüber gelacht, weil wir uns ebenfalls an diese Wundertüten erinnerten.

Welcher Moment bleibt Ihnen besonders in Erinnerung?

An einem Erzählcafé zum Thema «die Küche als Familientreffpunkt früher und heute» sind wir auf das Dreigenerationen-Zusammenleben gekommen. Eine Teilnehmerin lebte früher als ledige Tante auf dem Bauernhof der Grosseltern. Bei der Frau kamen am Erzählcafé plötzlich Erinnerungen ans schwierige Zusammenleben bis hin zur Eskalation hoch.

Förderprogrmm «Inspiration 2019»

Im Jahr 2019 fördern wir Erzählcafés, deren Zielgruppen bisher wenig berücksichtigt und angesprochen wurden und/oder deren Rahmen innovativ ist. Wir unterstützen die Erzählcafés in Form eines Porträts auf unserer Website und einem einmaligen Förderbeitrag in der Höhe von 500 Franken. Erfahren Sie mehr!