Das Netzwerk Erzählcafé war im Juni 2022 zu Gast im Schlossgarten Riggisberg. Die Erzählcafé-Moderatorin Nisha Andres erzählt, wie sie über Erzählcafés die Bewohnenden und die Dorfbevölkerung zum ungezwungenen Austausch an einen Tisch bringt.

Interview: Anina Torrado Lara

Im idyllisch gelegenen Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohnerinnen und Bewohner.

Welchen Bezug haben Sie zu Erzählcafés?

Nisha Andres: Beim Schlossgarten Riggisberg haben wir bereits vor der Pandemie erste Erfahrungen mit Erzählcafés gesammelt. Deshalb hat es uns besonders gefreut, dass das Werkstattgespräch vom 2. Juni 2022 bei uns zu Gast war! Ich moderiere selber Erzählcafés und finde die Methode sehr gut geeignet, um sich ungezwungen zu treffen und Barrieren in den Köpfen abzubauen.

Wie tun Sie das im Schlossgarten?

Inklusion ist unsere Kernkompetenz. Der Schlossgarten ist nur eine kurze Entfernung vom Dorf Riggisberg entfernt und bietet viele Anknüpfungspunkte, um in Kontakt zu kommen: Vom Eggladen über das Restaurant Brunne bis zu Veranstaltungen wie dem Ostermärit, dem Open Air Kino oder dem Sommerfest bieten wir ein grosses Angebot. Unser Konzept ist darauf ausgelegt, Barrieren abzubauen. So kommen Schülerinnen und Schüler ganz selbstverständlich zum Schwimmunterricht, einige Kinder aus dem Dorf besuchen unsere Kita und wir bieten selber hergestellte Produkte auf den Märkten an. Einige Dorfbewohner*innen haben leider immer noch Hemmungen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die vermeintlich anders sind.

Wie gehen die Bewohnenden mit diesen Barrieren in den Köpfen um?

Eine unserer Bewohnerinnen sagte einmal: «Es braucht einfach einen ersten Satz, ein erstes Lächeln, um Barrieren abzubauen.» Wir arbeiten jeden Tag daran, den Austausch aktiv zu fördern. Das gelingt auch an den Erzählcafés gut, denn sie ermöglichen es, eine höfliche, respektvolle und offene Kommunikation zu pflegen.

Was haben Sie vom Werkstattgespräch mitgenommen?

Es war ein sehr schöner Tag, an dem Inklusion auf einem hohen Niveau gelebt wurde. Es kamen so viele interessante Menschen und wir freuten uns über Gastbeiträge von Johanna Kohn und Gert Dressel. Mit dabei waren auch taubstumme Menschen mit Dolmetscher*innen, Personen im Rollstuhl und Bewohner*innen des Schlossgartens mit psychischen Erkrankungen. Einer der Bewohner sagte: «Ich hätte nicht gedacht, dass man mit taubstummen Menschen so intensiv ins Gespräch kommen kann! Ich habe realisiert, dass es noch andere Menschen mit einer Beeinträchtigung gibt.»

Ihr persönlicher Tipp fürs Erzählcafé?

Keine Angst davor haben, etwas Falsches zu sagen! Auch mir geht es manchmal so, dass ich unsicher bin. Ich möchte andere ermuntern, zu ihrer Unsicherheit zu stehen und ehrliche Gedanken zu formulieren. Nicht viel überlegen, sondern einfach fragen: «Ich bin mir gerade unsicher, wie darf ich dich nennen?» oder «Soll ich die Dolmetscherin oder die Person anschauen, die gerade redet?». Als Moderatorin habe ich auch die Aufgabe, den Elefanten im Raum anzusprechen. Dann sage ich manchmal: «Ich nehme gerade eine Irritation wahr, geht’s euch auch so?».

Der Schlossgarten Riggisberg war Gastgeber für die Werkstatttagung des Netzwerks Erzählcafé (Foto: Rhea Braunwalder)

Schlossgarten Riggisberg

Im Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohner*innen mit einer psychischen und/oder körperlichen Beeinträchtigung. 350 Mitarbeitende sind beschäftigt. Die Bewohnenden können an einem Beschäftigungsplatz in den Betrieben mitarbeiten: Im Werkhaus werden Versände vorbereitet, Wahl- und Stimmunterlagen eingepackt oder Produkte fabriziert. Eine Gärtnerei pflegt die Liegenschaft und zieht Kräuter. Auch die Mitarbeit in der Küche, im Restaurant oder im Glaswerk werden geschätzt. Kreativität kann in Ateliers, der Manufaktur und in der niederschwelligen Arbeitsintegration gelebt werden.

Zur Person

Nisha Andres (Foto: zVg)

Nisha Andres ist seit 2016 Teil des Schlossgartens Riggisberg. Als Fachverantwortliche Beratung und Integration ist sie Ansprechperson für Bewohnende und Mitarbeitende, die herausfordernde Situation erleben. Nach ihrer Ausbildung zur Detailhändlerin bildete sie sich berufsbegleitend zur Sozialpädagogin weiter. Seit 2002 ist sie in verschiedenen sozialen Institutionen tätig. Sie hat viel Erfahrung im Umgang mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, psychischen Erkrankungen und in palliativen Situationen.

Die Idee zum Projekt Con-tatto stammt von Lorenza Campana, einer Freiwilligen bei zwei Projekten des Migros-Kulturprozent: Netzwerk Erzählcafé und TiM – Tandem im Museum. Lorenza’s Idee war es, diese beiden Projekte zu verbinden und so einen inklusiven Nachmittag zu realisieren. Die Stiftung Lindenberg zeigte zu dieser Zeit eine Ausstellung von Skulpturen der Tessiner Künstlerin Veronica Branca Masa unter dem Titel «Frammento infinito».

Artikel: Valentina Pallucca Forte und Lorenza Campana

  • Wie kam es zum Erzählcafé?

Lorenza hatte folgende Idee: ein Nachmittag, an dem blinde/sehbehinderte Menschen und sehende Personen im Rahmen einer taktilen Besichtigung des Museums dieselben Empfindungen erleben können. Wir hatten das Privileg, die Skulpturen anfassen zu dürfen und die Bildhauerin dabeizuhaben, die mit Anekdoten und Geschichten über ihre Werke einen wichtigen Beitrag zu diesem Nachmittag leistete. Damit alle Teilnehmenden dieselbe Erfahrung machen konnten, erhielten die sehenden Personen verdunkelnde Augenmasken. Nach diesem taktilen Erlebnis wurde ein Erzählcafé zum Thema «Kontakt» durchgeführt.

An der Organisation der Veranstaltung waren diverse Akteur*innen beteiligt: das Netzwerk Erzählcafé, TiM, die Tagesstätte Casa Andreina und die Stiftung Lindenberg. «Das Ergebnis war ein unbekümmerter und bereichernder Nachmittag für alle, ein Erlebnis, das sich zu wiederholen holt», sagt Lorenza Campana.

  • Welches Thema habt ihr gewählt? 

Wir haben das Thema «Con-tatto» gewählt, weil das Wortspiel einerseits den Kontakt mit einer Oberfläche («contatto», zu Deutsch «Kontakt») und andererseits das Verwenden des Tastsinns («con il tatto», zu Deutsch «mit dem Tastsinn»), aber auch den respektvollen Umgang mit den Mitmenschen («con tatto», zu Deutsch «taktvoll») bedeutet. Wir wollten die Teilnehmenden dazu ermutigen, von ihren persönlichen Erfahrungen mit Berührungen und Kontakten zu erzählen. Wie haben sie sich im Laufe der Jahre und in Zeiten von COVID verändert? Wie haben sie dafür gesorgt, Kontakte auch während der Pandemie aufrechtzuerhalten? Welcher Kontakt ist ihnen besonders wichtig, und wie hat er ihr Leben verändert?

Da das Erzählcafé nach der Museumsbesichtigung stattgefunden hat, haben die Teilnehmenden eher von ihren Empfindungen und Gefühlen im Zusammenhang mit der Besichtigung erzählt. Lorenza und Valentina hielten es für sinnvoll, ihnen Raum für diese Erzählungen zu lassen, auch weil – wie die Teilnehmenden erklärt haben – es nicht oft vorkommt, dass man eine solche Erfahrung in einem Museum machen darf.

  • Wer hat teilgenommen? 

Unser Ziel war es, die Gäste der Tagesstätte Casa Andreina – Unitas einzubeziehen, also blinde oder sehbehinderte Menschen und sehende Personen. Dieses Ziel haben wir erreicht. Sechs blinde/sehbehinderte Menschen und sechs sehende Personen haben an der Veranstaltung teilgenommen.

  • Welche Barrieren wurden berücksichtigt? Was waren die Herausforderungen – und wie seid ihr damit umgegangen? 

Lorenza Campana und Valentina Pallucca haben die Stiftung Lindenberg vorab besucht, um sich zu überlegen, wo die Stühle für das Erzählcafé aufgestellt werden könnten. Sie haben sich für ein Ecke im Erdgeschoss entschieden, ohne Treppen. Die Stühle haben sie bereits vor dem Eintreffen der Teilnehmenden kreisförmig aufgestellt.

  •  Erinnert ihr euch an einen besonders schönen Moment? 

Während des Erzählcafés erzählte ein von Geburt an blinder Teilnehmer, wie er Farben wahrnimmt: Er assoziiert jede Farbe mit einer Melodie (rot = fröhliche und lebhafte Melodien, blau = ruhige Melodien etc.). Das war ein besonderer und interessanter Moment, denn einige der sehenden Teilnehmenden hatten sich noch nie Gedanken über diesen Aspekt des Alltags einer blinden Person gemacht.

  • Welches Fazit zieht ihr aus dieser Veranstaltung? 

Das Fazit fällt ganz klar positiv aus. Das Erzählcafé verlief etwas anders als geplant, aber es erwies sich als ein hervorragendes Instrument für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Austausch. Die Macherinnen haben verstanden, dass es eine gewisse Flexibilität braucht und dass es manchmal notwendig ist, das ursprüngliche Projekt abzuändern. Sie können aus dieser Erfahrung lernen: Beim nächsten Mal werden sie zuerst das Erzählcafé durchführen und erst dann die Museumsbesichtigung machen. So steht diese beim Erzählen nicht übermässig im Fokus. Sie wollen aber auf jeden Fall auch in Zukunft wieder verschiedene soziale Projekte miteinander verbinden.

  • Was haltet ihr von der Herangehensweise des Erzählcafés? 

Erzählcafés sind eine hervorragende Gelegenheit, Gedanken und Erfahrungen mit Menschen zu teilen, die sich anfänglich möglicherweise gar nicht kennen.

Ziel ist es, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Integration und gegenseitiges Verständnis zu schaffen, und dafür zu sorgen, dass sich alle wohlfühlen. Die Teilnehmenden sollen nicht nur die menschliche Wärme der anderen erfahren, sondern auch, wie Menschen im Grunde oft einen gemeinsamen Berührungspunkt haben und Leben miteinander verwoben sind – auch wenn die Menschen auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten.

Förderprogramm des Netzwerks Erzählcafé

Das Erzählcafé «Con-tatto» hat einen Förderbeitrag vom Netzwerk Erzählcafé erhalten. Auf der Website finden Sie nähere Informationen dazu, wie Sie sich mit Ihrem Erzählcafé bewerben können: Förderprogramm 2022

Marianne Wintzer ist Gründerin der Geschichtenwerkstätte, Mediatorin, Coach und Moderatorin von Erzählcafés. Sie ist überzeugt, dass sich gewaltfreie Kommunikation nirgends besser trainieren lässt als am Erzählcafé.  

 

Marianne, hat Gewalt in der Kommunikation zugenommen?

Marianne Wintzer: Konflikte gehören zum Alltag. Das war früher so, ist heute so und wird auch in Zukunft so sein. «Hatespeech» oder «Cancel Culture» sind aber leider Phänomene, die unsere Zeit prägen. Es macht mich traurig zu sehen, wie viele Menschen verlernt haben, sich zuzuhören. Man muss nicht immer auf alles eine Antwort haben oder jemanden von der eigenen Meinung überzeugen. Für mich ist das Erzählcafé eine sehr gute Trainingsmethode für mehr Verständnis und Toleranz.

Wie «trainieren» die Teilnehmenden am Erzählcafé?

In diesem vertrauensvollen Raum wird Wertschätzung, gegenseitiges Verständnis und Respekt eingefordert. Zuhören, sich in andere Menschen hineinversetzen und sich an eigene Geschichten erinnern ist intensive emotionale Arbeit an sich selbst. In Vergessenheit geratene Erlebnisse können plötzlich wieder an die Oberfläche kommen, wollen in Worte gefasst werden. Und sie können auch einen neuen Bedeutungsrahmen erhalten («so sah ich das noch nie»).

Gehen Menschen nach dem Erzählcafé verändert raus?

Das Erzählcafé hilft, eigene Denk- und Kommunikationsmuster im Dialog mit anderen Menschen zu überprüfen und zu verbessern. Es geht um: «Erzähl mal, ich höre dir zu und verstehe deine Beweggründe. Dann erzähle ich und du hörst mir zu. Wir müssen uns nicht einig sein, aber ausreden lassen und versuchen, zu verstehen.» Am Schluss im informellen Teil höre ich oft den Satz: «So sah ich das noch nie.» Nicht nur bei anderen, sondern auch bei sich selbst!

Das klingt auch nach einer Methode, um Konflikte zu bewältigen.

Ja, ein positives Gespräch ist immer friedensstiftend. Das Erzählcafé hat Parallelen zur Mediation. Bei einer Mediation sitzen sich zerstrittene Parteien gegenüber. Die Moderation stellt bei der Konflikterhellung sicher, dass es keine Diskussionen, sondern nur Rückfragen gibt. Die Parteien müssen zuhören und ihre Perspektive wechseln. Nur so können sie ihre Positionen aufweichen, eine Lösung finden, die einvernehmlich ist und diese gemeinsam erarbeitete Lösung dann mittragen.

Interview: Anina Torrado Lara

Zur Person

Marianne Wintzer aus Solothurn moderiert regelmässig Erzählcafé. Sie ist fasziniert von Lebensgeschichten und überzeugt, dass es nie zu spät ist für ein gutes Leben. Mit der Geschichtenwerkstätte coacht sie Menschen, die ihrem Leben eine neue Richtung geben wollen. Marianne Wintzer erzählt auch leidenschaftlich gerne Natur-Ton-Geschichten: auf dem Alphorn und dem Büchel.