Die Moderatorin Birgit Libiszewski erzählt von ihrem Erzählcafé. Die Informationsspezialistin arbeitet in der Bibliothek Münstergasse in Bern. Sie interessiert sich für Menschen und deren Geschichten. Sie hat am Erzählcafé in die Runde gefragt, welche Erinnerungen die Teilnehmenden zum Thema «Reparieren» haben. Schauen Sie rein!

Hören Sie auch die Tonaufnahme zum Thema «Reparieren»(Teil 1) und (Teil 2) an und lassen Sie sich inspirieren, selber einmal an einem Erzählcafé teilzunehmen.

Video: Daniel Bodenmann im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz

Am 20. März 2023 fand das jährliche Werkstattgespräch in Olten statt. Nach dem Treffen haben wir das neu erschienene Buch «Erzählcafés: Einblicke in Praxis und Theorie» zusammen gefeiert.  Das Erzählcafé-Team aus allen Landesteilen reiste an, um mit den Teilnehmenden die Frage zu diskutieren, ob das biografische Erzählen zur Friedensstiftung beitragen kann.

Die Hauptreferentinnen des Tages waren die Friedensaktivistin Lea Suter und die Soziologin Kristin Thorshaug.

Bild: zVg

Lea Suter gab Denkanstösse zum Dialog über Krieg und Frieden und auch zur Auswirkung von Worten auf unsere Art, die Welt zu sehen. Sie arbeitet seit 2011 im Bereich internationale Beziehungen, zuerst für die Vereinten Nationen in Genf, später für den aussenpolitischen Think Tank foraus und die Gesellschaft Schweiz-UNO. 2017 lancierte sie den Blog PeacePrints, auf dem sie Friedensreportagen aus Kriegsgebieten publiziert. Lea Suter ist Friedensmediatorin und arbeitet seit 2023 als Programmleiterin für den Bereich Pluralismus beim jungen Think+Do Tank Pro Futuris, für den sie Dialog-Formate zur Hemmung der Polarisierung in der Schweizer Gesellschaft entwickelt.

 

 

Bild: Interface

Kristin Thorshaug evaluierte im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz das Format und das Netzwerk Erzählcafé. Dabei kam sie zum Ergebnis, dass die Teilnahme an Erzählcafés die soziale Teilhabe sowie auch wichtige Lebenskompetenzen im Alter stärkt. Sie studierte in Norwegen Soziologie und verfügt über einen CAS in Diversity- und Gleichstellungskompetenz. Bei Interface Politikstudien Forschung und Beratung führt sie Evaluationen und Analysen von Massnahmen zur Förderung von Chancengleichheit, Integration und gesellschaftlicher Teilhabe durch.

 

Im Anschluss hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, an Schnupper-Erzählcafés in drei Sprachen und an interaktiven Gruppenarbeiten mitzumachen.

Erfolgreiches Buch

Nach der Tagung stiessen wir gemeinsam auf den neu erschienenen Sammelband «Erzählcafés: Einblicke und Theorie und Praxis» an. Die drei Herausgeber*innen Gert Dressel, Johanna Kohn und Jessica Schnelle freuten sich, das zweijährige Projekt mit vielen Beteiligten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit einem schönen Resultat zu Ende zu bringen. Das Buch kann zu einem Spezialpreis von 25 CHF bei Johanna Kohn bezogen werden.

Einige Stimmen

«Es hat mich gefreut, bekannte und auch neue Gesichter zu sehen. Das Netzwerk bringt Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammen, die sich gemeinsam auf den Weg begeben, Erzählcafés sorgfältig und mit viel Herzblut zu organisieren. Wenn so viele motivierte Menschen am Werkstattgespräch zusammenkommen, gehen alle inspiriert und frisch wieder an die Aufgabe heran, Erzählcafés in ihrer Region ins Leben zu rufen. »
Rhea Braunwalder, Co-Geschäftsleiterin des Vereins Netzwerk Erzählcafé

(more…)

Oriana Togni ist Sozialarbeiterin bei ProSenectute. Neben ihrer Tätigkeit bei “Cine…ma” in Gordola organisiert und moderiert sie auch die Erzählcafés und versucht dabei, den Interessen und Wünschen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gerecht zu werden.

Text: Valentina Pallucca

Warum haben Sie beschlossen, Ihren Gästen die Erzählcafés vorzuschlagen?

Oriana Togni: Die Idee, Erzählcafés anzubieten, entstand, nachdem wir vom Netzwerk Erzählcafé (Migros-Kulturprozent) erfahren hatten. Wir hielten diese Art von Projekt für geeignet, um es im Rahmen des sozialen Treffpunkts des Quartiers anzubieten. Wir haben hier einem Ort, an dem wir versuchen, Treffen, Begegnungen und sozialen Zusammenhalt zu schaffen.

Wer nimmt an Ihren Erzählcafés teil?

Jede und jeder kann an unseren Erzählcafés teilnehmen! Die meisten Teilnehmenden sind Pensionäre, da die Erzählcafés in der Regel nachmittags stattfinden. Für ältere Menschen ist es sehr bereichernd, an einer solchen Zeit des Austauschs und des Dialogs teilzunehmen, denn so können sie Menschen treffen, Kontakte knüpfen und die soziale Isolation durchbrechen. Sie setzen sich gleichzeitig mit verschiedenen Themen auseinander und bleiben am Puls.

Welche Themen sind am beliebtesten?

Im Jahr 2022 haben wir sieben Erzählcafés im Torhaus des Cine..ma in Gordola veranstaltet. Die Themen reichten von sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Themen bis hin zu informellen Momenten, die mit Geschichten aus vergangenen Zeiten verbunden waren.

Ein Erzählcafé, das grossen Anklang fand, war dasjenige zum Thema “Schulweg”, das in Zusammenarbeit mit dem Verein Pedibus stattfand. Bei dieser Gelegenheit haben die Teilnehmenden in ihren Erinnerungen geschwelgt und von Erfahrungen aus ihrer Kindheit erzählt. Alles, was mit der Vergangenheit zu tun hat, ist bei den Menschen sehr beliebt. Es ist einfach schön, Erinnerungen, Emotionen und Momente aufleben zu lassen!

Gibt es einen Moment, an den Sie sich besonders erinnern?

Ein Erzählcafé, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, hatte mit dem Thema Migration zu tun. Ich war angenehm überrascht, wie sensibel die Teilnehmenden mit dem Thema umgingen. Jede und jeder in der Gruppe war in der Lage, Sensibilität, Empathie und Offenheit gegenüber anderen zu zeigen, unabhängig von der kulturellen Herkunft, sozialen Schicht, dem Geschlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit. Es ist wirklich wahr, dass man in solchen Momenten nie aufhören kann, von anderen zu lernen.

Was würden Sie jemandem raten, der die Moderation eines Erzählcafés ausprobieren möchte?

Ich würde sehr empfehlen, sich darauf einzulassen. Man wird angenehm überrascht von den verschiedenen Standpunkten, die während der Erzählungen auftauchen und die manchmal Blickwinkel ans Licht bringen, die man vorher nicht bedacht hat. Hinzu kommt, dass die Diskussion die Menschen einbezieht und indirekt verbindet, wodurch eine Art sozialer Zusammenhalt entsteht. Ein Aspekt, den wir im Rahmen unserer Arbeit jeden Tag zu stärken versuchen.

CINE…ma in Gordola

Der Nachbarschafts-Concierge CINE…ma di Gordola ist ein Projekt von ProSenectute. Es handelt sich um einen offenen Ort, der den Menschen in der Umgebung zur Verfügung steht. Er bietet nicht nur die typischen Dienstleistungen eines Quartier-Concierge an, sondern soll auch ein Ort des Zuhörens, der Begegnung und des Austauschs sein. Mit dem Projekt wird die Intergenerationalität und die soziale Integration gefördert.

Nino Züllig wanderte in jungen Jahren von Georgien nach Deutschland aus. Seit 2014 lebt sie in Basel und arbeitet als Dolmetscherin. Die Erzählcafé-Moderatorin führte mit HEKS beider Basel interkulturelle Erzählcafés durch. Menschen aus der Ukraine und Georgien haben über ihre Heimat und das Leben in der Schweiz gesprochen.

 

Erinnerst du dich an dein erstes Erzählcafé?

Nino Züllig: Ja klar! HEKS beider Basel wollte im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration älteren, zugewanderten Menschen Erzählcafés anbieten. Da ich schon länger für HEKS dolmetsche, wussten sie, dass ich Russisch spreche. Im Frühling 2022 war mein erstes Erzählcafé. Es kamen Geflüchtete aus der Ukraine und ein georgisches Ehepaar aus meinem Bekanntenkreis.

Warum habt ihr das Erzählcafé auf Russisch angeboten?

Viele Menschen in der Ukraine sind zweisprachig und sprechen neben der ukrainischen Muttersprache auch Russisch. In Georgien können sich meist die älteren Leute noch auf Russisch verständigen. Russisch bot sich als unsere gemeinsame Sprache an.

Wie fühlt sich ein Erzählcafé auf Russisch für eine Ukrainerin an?

Ich war mir bewusst, dass ich sehr vorsichtig sein muss, wenn ich ein interkulturelles Erzählcafé auf Russisch anbiete. Man kann die Politik nicht ignorieren. Normalerweise ist ein Erzählcafé etwas Entspanntes und Angenehmes. Bei meinem Setting schwingt der Krieg immer mit. Als Moderatorin muss ich viel Fingerspitzengefühl haben, damit das Gespräch im ruhigen, friedlichen Rahmen bleibt und die Leute sich wohlfühlen. Und zwar diejenigen, die gerne Russisch sprechen, als auch diejenigen, die die Sprache nicht mögen. Ich glaube, ich erfahre viel Akzeptanz, weil ich aus Georgien stamme und beide Seiten verstehe.

Was ist dein Tipp?

Oft kommt es vor, dass eine Ukrainerin während des Erzählcafés eine Nachricht von ihrem Mann im Krieg bekommt und abgelenkt ist. Ich verstehe, dass sie dann darüber reden will. Als Moderatorin muss ich darauf eingehen und es annehmen, aber dann doch zurück zum eigentlichen Thema finden. Das Erzählcafé soll ein Ort der Entspannung sein, wo man über etwas anderes reden kann. Mein Tipp an Moderierende: Das Thema langsam und vorsichtig wechseln.

Deine Lieblingsthemen?

Mein erstes Thema war «Ich in der Schweiz». Die Gruppe hat darüber sinniert, wie sie sich hier fühlen, wie es früher war und mit welchen Schwierigkeiten sie kämpfen. Ich habe dann ein anders Thema identifiziert: «Gut und günstig leben in der Schweiz». Da kam ein sehr ideenreicher Erfahrungsaustausch zustande. Als ich in den normalen Rhythmus kam, wählte ich auch fröhliche Themen wie «Schön und modisch».

An dein Erzählcafé kommen vor allem Menschen 55+. Was beschäftigt sie?

Die deutsche Sprache ist das Hauptthema. Ältere Menschen lernen nicht mehr so leicht. Je älter man wird, desto schwieriger ist Migration. Man kommt an einen Ort, wo man die Sprache nicht spricht, die Kultur nicht kennt, ins Ungewisse geht. Ich mache diese Erzählcafés von Herzen, weil ich die Sorgen der Menschen gut nachvollziehen kann.

Was hat dich am meisten überrascht?

Es gibt immer wieder Aha-Erlebnisse. Egal, wo die Menschen aufgewachsen sind, einige Dinge sind überall gleich. Wir haben einmal ein Erzählcafé mit Menschen aus der Schweiz, der Ukraine und Georgien durchgeführt. Dabei haben wir gemerkt, dass sie alle als Kind ähnliche Sachen gespielt haben und sogar ähnliche Lieblingsessen hatten. Mein Fazit: Die Welt ist klein, wir sind gar nicht so unterschiedlich.

Bild: Nino Züllig hat am Erzählcafé das Guetzlibacken zum Thema gemacht.

Zur Person

Nino Züllig studierte in Georgien Deutsch und zog schon jung nach Deutschland. 2014 folgte sie ihrem Mann nach Basel. Sie arbeitet als interkulturelle Dolmetscherin und veranstaltet regelmässig Erzählcafés. In ihrer Freizeit ist sie am liebsten mit ihrer Familie in der wilden Natur unterwegs.

Interkulturelle Erzählcafés

Seit 2022 bietet die HEKS Geschäftsstelle beider Basel im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration Erzählcafés an. Sechs interkulturelle Vermittelnde bildeten sich bei Johanna Kohn weiter und bieten seitdem Erzählcafés in verschiedenen Sprachen an. Im 2023 werden die Erzählcafés fortgeführt. Sie sind thematisch verknüpft mit anderen Angeboten von AltuM beider Basel.

 

Interview: Anina Torrado Lara

Zwischen Juni und Dezember 2022 habe ich, auf Anfrage der Stadt Genf, rund zehn Erzählcafés mit Bewohnerinnen und Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen moderiert. Eine prägende zwischenmenschliche Erfahrung, die mehr als anderswo Anpassungsfähigkeit und Kreativität im Umgang mit Unvorhergesehenem erforderte.

«Was erzählen Sie uns denn heute?» Diese Frage wird mir unweigerlich gestellt, wenn ich gebeten werde, ein Erzählcafé mit älteren Menschen durchzuführen, die in einem Alters- und Pflegeheim leben. Und zwar noch bevor ich überhaupt erklären konnte, was das Erzählcafé ist, zu dem sie eingeladen worden sind, und wie es abläuft. Jedes Mal antworte ich mit einem breiten Lächeln und beruhige: «Nicht ich, sondern Sie werden erzählen», was bei vielen Verwunderung hervorruft. Ich schliesse daraus, dass sich das Erzählen über das eigene Leben und die Erlebnisse in Alters- und Pflegeheimen eher auf Gespräche unter vier Augen beschränkt oder hinter verschlossenen Türen im Zimmer stattfindet.

Auf Anfrage der Abteilung für Kultur und Digitalisierung der Stadt Genf (Département de la culture et de la transition numérique) wurden – zeitgleich mit der Promotion der Website mirabilia.ch – Erzählcafés in Seniorenvereinen und Alters- und Pflegeheimen angeboten. Ziel war es, diese neue digitale Plattform den Seniorinnen und Senioren vorzustellen und sie auf das reichhaltige Erbe der Museen und kulturellen Einrichtungen der Stadt aufmerksam zu machen. So wurden zwischen Juni und Dezember 2022 fünfzehn Erzählcafés organisiert, die meisten davon in Alters- und Pflegeheimen. Die Themen orientierten sich an jenen der Plattform mirabilia.ch, in diesem Fall war es das Reisen.

Sich besser kennenlernen … auch wenn man sich schon kennt

Auch wenn nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich war, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Alters- und Pflegeheime freuten, am Erzählcafé teilzunehmen, so haben sie insbesondere die Möglichkeit des respektvollen Gesprächs und des wohlwollenden Zuhörens geschätzt. Zwar haben diese Treffen ihren Zweck, die Website mirabilia.ch zu bewerben, nicht voll erfüllt, sie haben den Teilnehmenden jedoch die Möglichkeit geboten, von sich zu erzählen, einander zu entdecken und besser kennenzulernen – auch wenn sie täglichen Kontakt zueinander haben.

Vor allem aber sorgten die Erzählcafés dafür, dass sich die Bewohnnerinnen und Bewohner wieder als Individuum mit eigener Identität innerhalb der Gemeinschaft fühlen. Ausserdem wurde ihren persönlichen Erzählungen Wert beigemessen, da alle aufmerksam zuhörten, ohne zu unterbrechen, zu kommentieren oder zu urteilen. «Anders als sonst üblich haben sie einander zugehört, ohne einander ins Wort zu fallen oder zu widersprechen», stellte eine Fachperson einer Einrichtung fest. Die Gesprächsregeln am Erzählcafé, die selbstverständlich erscheinen mögen, sind hier besonders wichtig.

Anpassung und Kreativität

Die Moderation von Erzählcafés mit älteren Menschen, deren funktionale, kognitive und soziale Fähigkeiten nachlassen, geht mit besonderen Herausforderungen einher. Man muss auf Unvorhergesehenes reagieren und Kreativität an den Tag legen können, «um vom geplanten methodischen Ablauf abzuweichen und wieder darauf zurückzukommen, wenn es für die Teilnehmenden einen Vorteil hinsichtlich Anerkennung, Erfahrung und Interaktion mit den anderen darstellt», erklärt Johanna Kohn, Professorin am Institut für Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und Mitglied des Teams des Netzwerks Erzählcafé Schweiz*.

Es gehen ständig Pflegefachpersonen aus und ein, sei es, um ein Medikament zu einer festen Zeit zu verabreichen, eine Bewohnerin zu ihrer ärztlichen Untersuchung zu begleiten oder einen Bewohner in die Gruppe einzufügen, der erst später vom Mittagsschlaf aufgewacht ist. Es sind also laufend Anpassungen notwendig. Am häufigsten betreffen sie die folgenden vier Aspekte:

  • Tempo: Im Alter nimmt das Tempo ab. Man muss sich den älteren Menschen also auf eine besondere Art und Weise zuwenden, ihnen Zeit lassen, die Frage zu verarbeiten, die richtigen Worte zu finden, und wenn nötig umformulieren und die Fragen einfacher fassen.
  • Roter Faden: Es ist zuweilen schwierig, den roten Faden des Erzählcafés zu behalten, sowohl im Hinblick auf das Thema, da sich die Bewohnerinnen und Bewohner auch über aktuelle Alltagssorgen austauschen wollen, als auch in chronologischer Hinsicht, da es für sie schwieriger ist, in der Gegenwart zu erzählen, geschweige denn, in die Zukunft zu blicken.
  • Wortmeldungen: Es scheint mir, dass es den älteren Menschen, die an den Erzählcafés in den Alters- und Pflegeheimen teilgenommen haben, schwerer fällt als anderen Zielgruppen, spontan das Wort zu ergreifen. Es hat geholfen, dass sich zu Beginn des Treffens alle rundum mit ihrem Vornamen vorgestellt haben und so zumindest einmal zu Wort gekommen sind. Auf diese Weise wurde ein Klima des Vertrauens geschaffen und jene Personen, die sich nicht trauten, ohne Aufforderung das Wort zu ergreifen, konnten mit ihrem Vornamen angesprochen und so dazu ermuntert werden.
  • Gehör: Viele ältere Menschen haben Hörprobleme. Es ist deshalb wichtig, laut und langsam zu sprechen. Leider reicht das aber nicht immer, weswegen manchmal Frustration und Unmut in der Gruppe aufkommt. In einer Einrichtung bekam ein Bewohner mit Hörproblemen einen Kopfhörer mit Verstärker, der mit einem Mikro verbunden war. Das Mikrofon wurde auf ganz natürliche Weise zu einem «Redestab», den die Personen, die erzählen wollten, der Reihe nach in die Hand nahmen.

Auch die Emotionen kamen bei den Treffen in den Alters- und Pflegeheimen nicht zu kurz, es wurde gelacht und geweint. «Es entstanden neue Beziehungen zwischen Menschen, die Gemeinsamkeiten in ihrer Lebensgeschichte entdeckt haben, von denen sie nichts wussten», erzählte eine Fachperson einige Tage nach dem Erzählcafé. «Es entstand eine Art freundschaftliche Verbundenheit zwischen den Personen, die teilgenommen haben, bedingt durch das Gefühl, gemeinsam etwas Besonderes erlebt zu haben.»

Text: Anne-Marie Nicole

*Johanna Kohn, «EB Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis», Heft 4, 66. Jahr, 2020, herausgegeben von der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland – Bundesarbeitsgemeinschaft e. V.

Am 26. November haben sich in der Bibliothèque sonore romande in Lausanne rund ein Dutzend Menschen für ein erstes Erzählcafé getroffen. Und nicht nur irgendein Erzählcafé, ein inklusives noch dazu, sind doch Personen mit einer Sehbeeinträchtigung, Freiwillige der Bibliothek und Personen, die Hörbücher aufnehmen, zusammengekommen. Thema des Tages: «Unsere Geschichten rund ums Lesen». Angesichts des Erfolgs dieser ersten Ausgabe kann es gut sein, dass das Projekt weitergeführt wird. Die Co-Moderatorinnen Pascale Ernst und Florence D. Perret haben unsere Fragen beantwortet.

Interview: Anne-Marie Nicole

Wodurch wurden Sie inspiriert und motiviert, das Erzählcafé zu veranstalten? 

Das Erzählcafé wurde in der Bibliothèque sonore romande (BSR) veranstaltet, die hauptsächlich von blinden Menschen besucht wird. Die Leiterin der Bibliothek organisiert einmal im Monat literarische Apéros, an denen die Freiwilligen (die Hörbücher aufnehmen) und diejenigen, die Hörbücher ausleihen, zusammenkommen. Florence, die privat an einer dieser Veranstaltungen teilgenommen hat, schlug der Leiterin dann das Konzept Erzählcafé vor. Unser Ziel war es, die Teilnehmenden zu ermuntern, ihre Geschichten rund ums Lesen zu erzählen.

 

Welche Geschichten wollten Sie sichtbar machen?

In einem ersten Gespräch mit der Leiterin der BSR besprachen wir die Fragen, die wir im Rahmen des Erzählcafés stellen wollten. Sie bat uns, diese so zu gestalten, dass sich die Leserinnen und Leser sowie die Hörerinnen und Hörer über ihre jeweiligen besonderen Erfahrungen austauschen können. Wir hatten eher klassische Fragen vorbereitet, über den Einfluss von Büchern in ihrem Leben. Wir hielten uns also an die Struktur der «gewöhnlichen» Erzählcafés und haben diese gleichzeitig um die persönlichen Erfahrungen beim Vorlesen und beim Hören eines Buchs ergänzt.

 

Wie haben Sie das Erzählcafé barrierefrei gestaltet? 

Da sehbehinderte Menschen am Erzählcafé teilnahmen, haben wir der Stimme einen besonderen Stellenwert eingeräumt. Wir begannen deshalb mit einer Vorstellungsrunde, in der alle nacheinander ihren Vornamen nannten und erzählten, was sie gerade lesen oder vor kurzem gelesen haben. So konnte der Kreis gebildet und den sehbehinderten Teilnehmenden räumliche Orientierung ermöglicht werden.

 

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert und wie haben Sie diese gemeistert? 

Da wir zu zweit moderierten, konnten wir uns bei den verschiedenen Phasen des Erzählcafés abwechseln, was wirklich angenehm war. Ausserdem haben wir abwechselnd ausführlich erklärt, welche Regeln gelten. Wir hatten einen reichen und vielseitigen Gesprächsfaden vorbereitet. Uns war es wichtiger, dass ein qualitativer Austausch zustande kommt, als möglichst viele Fragen zu stellen. Wir haben die Moderation deshalb an die Teilnehmenden angepasst und auf manche Fragen verzichtet.

 

Erinnern Sie sich an einen besonders schönen Moment?

Wir hatten eine Frage zum sinnlichen Aspekt von Büchern vorbereitet. Aber einige Personen hatten das Thema bereits angesprochen, bevor wir die Frage überhaupt gestellt hatten. Diese Übereinstimmung der Wellenlängen zu erleben war wunderbar! Fast alle Teilnehmenden zeigten zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Verletzlichkeit, das waren ganz besondere Momente. Die Freiwilligen, die Sehbehinderten und ihre Begleitpersonen, sie alle haben sehr bewegende Bucherlebnisse aus ihrem Leben geteilt.

Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz wird zum Verein. Das bisherige Projektteam wird auch in Zukunft sorgsam moderierte Erzählcafés fördern.

Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz wurde 2015 als Kooperationsprojekt zwischen dem Migros-Kulturprozent und der Fachhochschule Nordwestschweiz initiiert. In den letzten Jahren hat es sich zu einem nationalen Netzwerk von Personen entwickelt, die sich von der Methode des Erzählcafés inspirieren lassen.

Während seiner Pilot- und Aufbauphase wurde es eng durch das Migros-Kulturprozent begleitet. Es sieht im Netzwerk Erzählcafé einen wichtigen Akteur, um den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz zu stärken.

Das Migros-Kulturprozent nimmt aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf und setzt befristete Impulse. Nun entwickelt sich das Netzwerk Erzählcafé mit einer neuen Trägerschaft zu einem eigenständigen Verein weiter. Es wird während den Jahren 2023 und 2024 weiterhin vom Migros-Kulturprozent finanziell gefördert.

Gerne informieren Rhea Braunwalder und Marcello Martinoni Sie persönlich über die Veränderungen:

Montag, 5. Dezember 2022, 12.30 bis 13.30 Uhr, über Zoom

Wir freuen uns, wenn Sie das Netzwerk in der neuen Form weiterhin unterstützen. Bei Fragen stehen Ihnen Marcello Martinoni (Italienisch), Anne-Marie Nicole (Französisch) und Rhea Braunwalder (Deutsch) zur Verfügung.

Endlich ist es soweit: Unser Buch «Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie.», an dem 34 Autorinnen und Autoren mitgeschrieben haben, wurde veröffentlicht. Sie können es über den Beltz-Verlag bestellen (26 Euro), oder direkt bei der Herausgeberin Johanna Kohn (johanna.kohn@fhnw.ch) zu einem Spezialpreis bestellen.

Das Buch richtet sich an freiwillig Engagierte sowie Fachpersonen aus Sozialer Arbeit, Bildungsarbeit, Alters- und Jugendarbeit, Pflege, Hospiz- und Palliativbereich, Gesundheitsförderung, Quartiersarbeit sowie Kulturarbeit und -vermittlung. Vor allem jene, die Erzählcafés bereits moderieren oder anbieten, erhalten Einblicke in Praxis und Theorie.

Die Herausgeber*innen Jessica Schnelle, Johanna Kohn und Gert Dressel haben dieses Publikationsprojekt seit 2019 sorgfältig geplant und umgesetzt.

Lokale Buchvernissagen

Haben Sie die Möglichkeit, eine kleine Vernissage oder Lesung in Ihrer Region zu organisieren? Wir unterstützen Sie dabei und sind dankbar für Ihre Initiative. Hier erfahren Sie mehr

Unser gemeinsam geschriebenes Buch: «Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie.» im Beltz-Verlag (Hrsg: Gert Dressel, Johanna Kohn, Jessica Schnelle) ist erschienen! Das Buch, eine Kollaboration von 35 Autor*innen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich beleuchtet Hintergründe und Kontexte des Formats Erzählcafé aus verschiedenen Perspektiven. Wir freuen uns, wenn Sie das Buch lokal vorstellen können. Wir vergüten Buchvernissagen mit 500 Franken.

 

Damit möglichst viele Moderatorinnen und Moderatoren und Teilnehmende von Erzählcafés von unserem neuen Buch wissen, ermuntern wir zu lokalen Buchvernissagen – dort, wo ihr lebt und arbeitet. Habt ihr die Möglichkeit, das Buch anlässlich eines Erzählcafés vorzustellen, in einer Bibliothek oder Buchhandlung daraus vorzulesen oder einen Buch-Apéro zu organisieren? Wir vergüten eure lokale Veranstaltung mit einem Pauschalbetrag von 500 Franken.

Bedingungen:

  • Die Buchvernissage/-promotion muss zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 stattfinden.
  • Die Veranstaltung muss als Buchvorstellung/Vernissage angekündigt werden und auf der Agenda des Netzwerks Erzählcafé Schweiz hochgeschaltet werden.
  • Buchtitel, Herausgeber und Verlag werden in der Einladung/Flyer genannt, wenn möglich mit Logo des Netzwerks Erzählcafé und dem Migros-Kulturprozent.
  • Ein Ansichtsexemplar des Buches liegt an der Vernissage aus. Die Möglichkeiten ein Buch zu erwerben werden aufgezeigt, oder gegebenenfalls mit einer lokalen Buchhandlung zusammengearbeitet.
  • Ein Teil der Veranstaltung muss sich direkt mit der Vorstellung des Buchs beschäftigen.
  • Nach der Vernissage senden Sie uns 2-3 Sätze wie die Veranstaltung verlief, welche auf unserem Schwarzen Brett für den Erfahrungsaustausch geteilt werden.

Danke vielmals, dass ihr mithelft, unser Buch und die tollen Beiträge bekannter zu machen!

Informationsblatt zur möglichen Zusammenarbeit mit Buchhandlungen

Stellt bitte einen Antrag  über das Formular:

Am 26. August 2022 trafen sich 20 Moderierende im Haus der offenen Jugendarbeit der Stadt Wil zum Austausch und zur Reflexion. Der Tag dreht sich rund um Rassismus und um Erzählcafés mit Jugendlichen. Ein Rückblick von Rhea Braunwalder, Moderatorin und Projektmitarbeiterin des Netzwerks Erzählcafé Schweiz.

Text: Rhea Braunwalder

Wie kam es zur Auswahl des Orts?

In Wil (SG) entstand vor rund einem Jahr eine sehr aktive Gruppe von Moderierenden, die sich auf Initiative der Fachstelle Integration der Stadt Wil gebildet hat. Im Rahmen der Aktionswochen gegen Rassismus (März 2022) fanden in Wil gleich mehrere Erzählcafés zum Thema «Dazu gehören» statt. Es ging um Geschichten rund um das Zugehörigkeitsgefühl – nicht nur zu einem Land, aber auch zu Gruppen von Freunden, Vereinen oder Familien. Da ich bei den Moderierenden sehr viel Energie und Motivation spürte, war für mich klar, dass die diesjährige Intervision hier stattfinden sollte. Ich fragte Jara Halef von der Jugendarbeit Wil, ob sie uns einen Raum zur Verfügung stellen könnte.

Wie gestaltete sich der Tag?

Wir begannen am Vormittag mit einem Podium mit unseren Gastgeberinnen Jara Halef (Jugendarbeiterin bei der Stadt Will) und Katarina Stigwall (Leiterin und Beraterin bei der HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung). Die beiden Referentinnen gaben Einblicke in ihre Arbeitswelt. Sie sind sich einig, dass das Erzählen über Rassismus, egal in welchem Setting, ziemlich schwierig ist. «Bis die Menschen überhaupt den Mut fassen, zur Beratungsstelle zu kommen, braucht es ziemlich viel», so Katarina Stigwall. Hingegen sei man beim Erzählcafé in einem geschützten Rahmen. Im Erzählcafé von Jara Halef erzählten einige Jugendliche von ihren Erfahrungen, nicht dazuzugehören.

Nach dem Podium gingen wir gemeinsam zum Mittagessen, wo viel Zeit für individuelle Gespräche blieb. Die Moderierenden besprachen untereinander ihre nächsten Erzählcafés, holten sich Inputs für Themen und Fragenstellungen und teilten eigene Geschichten aus dem Leben.

Am Nachmittag haben wir im Intervisionsformat in Kleingruppen individuelle Fälle genauer besprochen. Fragen wie «Was macht man, wenn Personen negative Schlüsse aus ihren Erlebnissen ziehen?» und «Wie gehen wir mit Medienschaffenden und ihren Berichten über unsere Erzählcafés um?» wurden intensiv diskutiert.

Was habe ich mitgenommen?

Das Interesse der Moderierenden am Thema Jugendliche und Rassismus war gross. Ich nehme mit, dass eine gute Moderation nicht nur mit Moderationsfähigkeiten zusammenhängt: Je mehr wir für Diversitätsthemen sensibilisiert sind und je besser wir uns in die Gefühls- und Lebenswelten unserer Erzählenden hineinversetzen können, desto feinfühliger können wir in der Moderation sein. So ist es mir ein Anliegen, im Netzwerk die Diversität in Bezug auf Gender, Sexualität, Herkunft und psychische wie physische Fähigkeiten zu thematisieren.

 

Zu den Personen

Katarina Stigwall ist Leiterin der HEKS Beratungsstelle gegen Rassismus und Diskriminierung und entwickelte ein Kartenset, das zum Reflektieren über Rassismus im Alltag anregt. Auf der einen Seite stehen Sätze, die auf den ersten Blick ganz unbefangen erscheinen, auf der Rückseite werden die Sätze historisch und gesellschaftlich kontextualisiert und erhalten so eine grössere Bedeutung. Das Kartenset eignet sich als Gesprächsgrundlage für Workshops. Für mehr Informationen wenden Sie sich an die Beratungsstelle.


Jara Halef ist Jugendarbeiterin bei der Stadt Wil. Sie schätzt den ungezwungenen und lockeren Umgang mit Jugendlichen, ohne Erwartungen oder Leistungsdruck.