Nino Züllig wanderte in jungen Jahren von Georgien nach Deutschland aus. Seit 2014 lebt sie in Basel und arbeitet als Dolmetscherin. Die Erzählcafé-Moderatorin führte mit HEKS beider Basel interkulturelle Erzählcafés durch. Menschen aus der Ukraine und Georgien haben über ihre Heimat und das Leben in der Schweiz gesprochen.

 

Erinnerst du dich an dein erstes Erzählcafé?

Nino Züllig: Ja klar! HEKS beider Basel wollte im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration älteren, zugewanderten Menschen Erzählcafés anbieten. Da ich schon länger für HEKS dolmetsche, wussten sie, dass ich Russisch spreche. Im Frühling 2022 war mein erstes Erzählcafé. Es kamen Geflüchtete aus der Ukraine und ein georgisches Ehepaar aus meinem Bekanntenkreis.

Warum habt ihr das Erzählcafé auf Russisch angeboten?

Viele Menschen in der Ukraine sind zweisprachig und sprechen neben der ukrainischen Muttersprache auch Russisch. In Georgien können sich meist die älteren Leute noch auf Russisch verständigen. Russisch bot sich als unsere gemeinsame Sprache an.

Wie fühlt sich ein Erzählcafé auf Russisch für eine Ukrainerin an?

Ich war mir bewusst, dass ich sehr vorsichtig sein muss, wenn ich ein interkulturelles Erzählcafé auf Russisch anbiete. Man kann die Politik nicht ignorieren. Normalerweise ist ein Erzählcafé etwas Entspanntes und Angenehmes. Bei meinem Setting schwingt der Krieg immer mit. Als Moderatorin muss ich viel Fingerspitzengefühl haben, damit das Gespräch im ruhigen, friedlichen Rahmen bleibt und die Leute sich wohlfühlen. Und zwar diejenigen, die gerne Russisch sprechen, als auch diejenigen, die die Sprache nicht mögen. Ich glaube, ich erfahre viel Akzeptanz, weil ich aus Georgien stamme und beide Seiten verstehe.

Was ist dein Tipp?

Oft kommt es vor, dass eine Ukrainerin während des Erzählcafés eine Nachricht von ihrem Mann im Krieg bekommt und abgelenkt ist. Ich verstehe, dass sie dann darüber reden will. Als Moderatorin muss ich darauf eingehen und es annehmen, aber dann doch zurück zum eigentlichen Thema finden. Das Erzählcafé soll ein Ort der Entspannung sein, wo man über etwas anderes reden kann. Mein Tipp an Moderierende: Das Thema langsam und vorsichtig wechseln.

Deine Lieblingsthemen?

Mein erstes Thema war «Ich in der Schweiz». Die Gruppe hat darüber sinniert, wie sie sich hier fühlen, wie es früher war und mit welchen Schwierigkeiten sie kämpfen. Ich habe dann ein anders Thema identifiziert: «Gut und günstig leben in der Schweiz». Da kam ein sehr ideenreicher Erfahrungsaustausch zustande. Als ich in den normalen Rhythmus kam, wählte ich auch fröhliche Themen wie «Schön und modisch».

An dein Erzählcafé kommen vor allem Menschen 55+. Was beschäftigt sie?

Die deutsche Sprache ist das Hauptthema. Ältere Menschen lernen nicht mehr so leicht. Je älter man wird, desto schwieriger ist Migration. Man kommt an einen Ort, wo man die Sprache nicht spricht, die Kultur nicht kennt, ins Ungewisse geht. Ich mache diese Erzählcafés von Herzen, weil ich die Sorgen der Menschen gut nachvollziehen kann.

Was hat dich am meisten überrascht?

Es gibt immer wieder Aha-Erlebnisse. Egal, wo die Menschen aufgewachsen sind, einige Dinge sind überall gleich. Wir haben einmal ein Erzählcafé mit Menschen aus der Schweiz, der Ukraine und Georgien durchgeführt. Dabei haben wir gemerkt, dass sie alle als Kind ähnliche Sachen gespielt haben und sogar ähnliche Lieblingsessen hatten. Mein Fazit: Die Welt ist klein, wir sind gar nicht so unterschiedlich.

Bild: Nino Züllig hat am Erzählcafé das Guetzlibacken zum Thema gemacht.

Zur Person

Nino Züllig studierte in Georgien Deutsch und zog schon jung nach Deutschland. 2014 folgte sie ihrem Mann nach Basel. Sie arbeitet als interkulturelle Dolmetscherin und veranstaltet regelmässig Erzählcafés. In ihrer Freizeit ist sie am liebsten mit ihrer Familie in der wilden Natur unterwegs.

Interkulturelle Erzählcafés

Seit 2022 bietet die HEKS Geschäftsstelle beider Basel im Rahmen des Projekts AltuM – Alter und Migration Erzählcafés an. Sechs interkulturelle Vermittelnde bildeten sich bei Johanna Kohn weiter und bieten seitdem Erzählcafés in verschiedenen Sprachen an. Im 2023 werden die Erzählcafés fortgeführt. Sie sind thematisch verknüpft mit anderen Angeboten von AltuM beider Basel.

 

Interview: Anina Torrado Lara

Lesen Sie den Jahresbericht 2022. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse:

  • Am 30. November 2022 wird der Verein Netzwerk Erzählcafé Schweiz mit Sitz in Taverne (TI) gegründet.
  • Das Erzählcafé wird als Intervention in die Orientierungsliste KAP 2022 aufgenommen.
  • Die Gesundheitsförderung Schweiz erklärt sich bereit, das Netzwerk Erzählcafé zwei weitere Jahre im Rahmen der Projektförderung KAP zu unterstützen.
  • Die Ergebnisse der Externen Evaluation des Netzwerks durch Interface werden in einem Faktenblatt publiziert.

Zum Jahresbericht 2022

Zu allen Jahresberichten

Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz wird zum Verein. Das bisherige Projektteam wird auch in Zukunft sorgsam moderierte Erzählcafés fördern.

Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz wurde 2015 als Kooperationsprojekt zwischen dem Migros-Kulturprozent und der Fachhochschule Nordwestschweiz initiiert. In den letzten Jahren hat es sich zu einem nationalen Netzwerk von Personen entwickelt, die sich von der Methode des Erzählcafés inspirieren lassen.

Während seiner Pilot- und Aufbauphase wurde es eng durch das Migros-Kulturprozent begleitet. Es sieht im Netzwerk Erzählcafé einen wichtigen Akteur, um den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz zu stärken.

Das Migros-Kulturprozent nimmt aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf und setzt befristete Impulse. Nun entwickelt sich das Netzwerk Erzählcafé mit einer neuen Trägerschaft zu einem eigenständigen Verein weiter. Es wird während den Jahren 2023 und 2024 weiterhin vom Migros-Kulturprozent finanziell gefördert.

Gerne informieren Rhea Braunwalder und Marcello Martinoni Sie persönlich über die Veränderungen:

Montag, 5. Dezember 2022, 12.30 bis 13.30 Uhr, über Zoom

Wir freuen uns, wenn Sie das Netzwerk in der neuen Form weiterhin unterstützen. Bei Fragen stehen Ihnen Marcello Martinoni (Italienisch), Anne-Marie Nicole (Französisch) und Rhea Braunwalder (Deutsch) zur Verfügung.

Das Netzwerk Erzählcafé war im Juni 2022 zu Gast im Schlossgarten Riggisberg. Die Erzählcafé-Moderatorin Nisha Andres erzählt, wie sie über Erzählcafés die Bewohnenden und die Dorfbevölkerung zum ungezwungenen Austausch an einen Tisch bringt.

Interview: Anina Torrado Lara

Im idyllisch gelegenen Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohnerinnen und Bewohner.

Welchen Bezug haben Sie zu Erzählcafés?

Nisha Andres: Beim Schlossgarten Riggisberg haben wir bereits vor der Pandemie erste Erfahrungen mit Erzählcafés gesammelt. Deshalb hat es uns besonders gefreut, dass das Werkstattgespräch vom 2. Juni 2022 bei uns zu Gast war! Ich moderiere selber Erzählcafés und finde die Methode sehr gut geeignet, um sich ungezwungen zu treffen und Barrieren in den Köpfen abzubauen.

Wie tun Sie das im Schlossgarten?

Inklusion ist unsere Kernkompetenz. Der Schlossgarten ist nur eine kurze Entfernung vom Dorf Riggisberg entfernt und bietet viele Anknüpfungspunkte, um in Kontakt zu kommen: Vom Eggladen über das Restaurant Brunne bis zu Veranstaltungen wie dem Ostermärit, dem Open Air Kino oder dem Sommerfest bieten wir ein grosses Angebot. Unser Konzept ist darauf ausgelegt, Barrieren abzubauen. So kommen Schülerinnen und Schüler ganz selbstverständlich zum Schwimmunterricht, einige Kinder aus dem Dorf besuchen unsere Kita und wir bieten selber hergestellte Produkte auf den Märkten an. Einige Dorfbewohner*innen haben leider immer noch Hemmungen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die vermeintlich anders sind.

Wie gehen die Bewohnenden mit diesen Barrieren in den Köpfen um?

Eine unserer Bewohnerinnen sagte einmal: «Es braucht einfach einen ersten Satz, ein erstes Lächeln, um Barrieren abzubauen.» Wir arbeiten jeden Tag daran, den Austausch aktiv zu fördern. Das gelingt auch an den Erzählcafés gut, denn sie ermöglichen es, eine höfliche, respektvolle und offene Kommunikation zu pflegen.

Was haben Sie vom Werkstattgespräch mitgenommen?

Es war ein sehr schöner Tag, an dem Inklusion auf einem hohen Niveau gelebt wurde. Es kamen so viele interessante Menschen und wir freuten uns über Gastbeiträge von Johanna Kohn und Gert Dressel. Mit dabei waren auch taubstumme Menschen mit Dolmetscher*innen, Personen im Rollstuhl und Bewohner*innen des Schlossgartens mit psychischen Erkrankungen. Einer der Bewohner sagte: «Ich hätte nicht gedacht, dass man mit taubstummen Menschen so intensiv ins Gespräch kommen kann! Ich habe realisiert, dass es noch andere Menschen mit einer Beeinträchtigung gibt.»

Ihr persönlicher Tipp fürs Erzählcafé?

Keine Angst davor haben, etwas Falsches zu sagen! Auch mir geht es manchmal so, dass ich unsicher bin. Ich möchte andere ermuntern, zu ihrer Unsicherheit zu stehen und ehrliche Gedanken zu formulieren. Nicht viel überlegen, sondern einfach fragen: «Ich bin mir gerade unsicher, wie darf ich dich nennen?» oder «Soll ich die Dolmetscherin oder die Person anschauen, die gerade redet?». Als Moderatorin habe ich auch die Aufgabe, den Elefanten im Raum anzusprechen. Dann sage ich manchmal: «Ich nehme gerade eine Irritation wahr, geht’s euch auch so?».

Der Schlossgarten Riggisberg war Gastgeber für die Werkstatttagung des Netzwerks Erzählcafé (Foto: Rhea Braunwalder)

Schlossgarten Riggisberg

Im Schlossgarten Riggisberg leben rund 270 Bewohner*innen mit einer psychischen und/oder körperlichen Beeinträchtigung. 350 Mitarbeitende sind beschäftigt. Die Bewohnenden können an einem Beschäftigungsplatz in den Betrieben mitarbeiten: Im Werkhaus werden Versände vorbereitet, Wahl- und Stimmunterlagen eingepackt oder Produkte fabriziert. Eine Gärtnerei pflegt die Liegenschaft und zieht Kräuter. Auch die Mitarbeit in der Küche, im Restaurant oder im Glaswerk werden geschätzt. Kreativität kann in Ateliers, der Manufaktur und in der niederschwelligen Arbeitsintegration gelebt werden.

Zur Person

Nisha Andres (Foto: zVg)

Nisha Andres ist seit 2016 Teil des Schlossgartens Riggisberg. Als Fachverantwortliche Beratung und Integration ist sie Ansprechperson für Bewohnende und Mitarbeitende, die herausfordernde Situation erleben. Nach ihrer Ausbildung zur Detailhändlerin bildete sie sich berufsbegleitend zur Sozialpädagogin weiter. Seit 2002 ist sie in verschiedenen sozialen Institutionen tätig. Sie hat viel Erfahrung im Umgang mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, psychischen Erkrankungen und in palliativen Situationen.

Über ein Erzählcafé lässt sich zweifellos sagen, dass es intensiv, bewegend, berührend, heiter, fröhlich oder ernst war. Aber darf man auch urteilen, dass es erfolgreich oder – im Gegenteil – nicht erfolgreich war? Von einem Misserfolg zu sprechen, würde das nicht bedeuten, die Qualität der ausgetauschten Erzählungen in Frage zu stellen? Ein persönlicher Erfahrungsbericht.

 

Text: Anne-Marie Nicole, Koordinatorin Suisse romande

Anfang Dezember 2021 hat das Musée Ariana in Genf das partizipative und Wochenende «L’art pour tous, tous pour l’art» organisiert. Es stand ganz im Zeichen der Inklusion und der Vielfalt der Teilnehmenden. Das angebotene Kulturprogramm sollte die Pluralität der Sichtweisen fördern. In diesem Rahmen wurden zwei Erzählcafés angeboten. Bereits in der Vergangenheit fanden auf Initiative der Kulturvermittlerin Sabine Erzählcafés im Museum statt. Das Musée Ariana hat dem Publikum die Museumsräume und einen Rahmen für Gespräche zur Verfügung gestellt.

«Es stellte sich plötzlich Enttäuschung ein»

Dieses Mal ging es am Erzählcafé ums Thema «Plaisirs et déplaisirs». Es bot den Teilnehmenden die Möglichkeit, von kleinen Freuden zu erzählen, die für sie das Leben ausmachen und die sie wie Prousts Madeleine in die Gerüche und Gefühle ihrer Kindheit zurückversetzen. Und da dieses Wochenende dazu gedacht war, die Wahrnehmungsfähigkeiten zu trainieren, sollte das Thema auch dazu einladen, von sensorischen Erinnerungen und Erfahrungen zu erzählen: sinnliche Genüsse und Verdrüsse, Mögen und Nichtmögen, gute und schlechte Gerüche, Sehsinn und Hörsinn, die Freude bereiten können, manchen Menschen aber verwehrt sind.

Nach dem ersten Erzählcafé am Samstag, an dem etwa ein Dutzend Personen mit und ohne Beeinträchtigung teilgenommen hatten, stellte sich bei uns Moderatorinnen und Vermittlerinnen Enttäuschung ein. Wir hatten das Gefühl, dass die Veranstaltung etwas zusammenhanglos und bruchstückhaft war. Wir hatten noch die vorherigen, reichen und bewegenden Erzählcafés in Erinnerung, an denen die einzelnen Geschichten ganz natürlich ineinander übergingen und von den Teilnehmenden aufgegriffen wurden. In diesem Fall jedoch waren wir enttäuscht, und dies trotz einiger reicher Geschichten und der Übersetzung in Gebärdensprache. Was hat da nicht richtig funktioniert?

Was lief schief?

Wir haben dann zusammen versucht, die Ursachen zu identifizieren. Schnell waren wir uns einig, dass diese einerseits bei den externen Bedingungen und andererseits bei der Vorbereitung des Erzählcafés zu suchen sind. Hier die Erkenntnisse:

  • Das Umfeld. Bei der Organisation des Erzählcafés mussten wir die COVID-19-Schutzmassnahmen berücksichtigen. Aus diesem Grund wurde der grosse Raum gut gelüftet, weswegen es allerdings relativ kühl war und die Teilnehmenden ihre Mäntel nicht auszogen. Die Stühle wurden kreisförmig mit grossem Abstand angeordnet, wodurch sich keine vertraute, gemütliche Atmosphäre einstellen konnte. Durch das Tragen der Maske war es teilweise schwierig, die Erzählungen zu verstehen. Das Zuhören und die Aufmerksamkeit wurden durch Geräusche anderer Aktivitäten im Museum gestört, ebenso wie durch das Kommen und Gehen im Raum selbst; denn manche Personen kamen zu spät und wussten deshalb nicht über den Ablauf und die Verhaltensregeln eines Erzählcafés Bescheid. Aufgrund der Schutzmassnahmen mussten wir zudem auf den informellen «Café»-Teil verzichten, der jedoch für das Knüpfen von Beziehungen wichtig ist.
  • Die Vorbereitung. Nachdem ich darüber nachgedacht habe, muss ich gestehen, dass ich den Kontext, in dem die beiden Erzählcafés stattfanden, aus den Augen verloren habe. Anstatt den Fokus auf die sensorischen Erfahrungen zu legen, die die Teilnehmenden während des Tages im Museum gemacht hatten, und sie mit vergangenen Erinnerungen und Ereignissen in Verbindung zu bringen, habe ich das Thema «Plaisirs et déplaisirs» zu breit behandelt. Dies erklärt gewiss den mitunter zusammenhanglosen Ablauf und zweifellos auch den Frust mancher Personen darüber, dass sie ihre Entdeckungen und Eindrücke vom Tag selbst nicht teilen konnten.
  • Die Gruppe. Die Zielgruppe war sehr breit: Personen mit körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung, ihre Angehörigen und Begleitpersonen. Rückblickend denke ich, dass ich bzw. wir stärker an der integrativen Dimension des Erzählcafés hätten arbeiten sollen, zum Beispiel durch das Einbeziehen einer Person mit Beeinträchtigung bei der Moderation des Erzählcafés.

Aus Fehlern gelernt

Für das zweite Erzählcafé haben wir Anpassungen – hauptsächlich logistischer Art – vorgenommen. So haben wir zum Beispiel die Tür zum Raum geschlossen, sobald wir begonnen haben. Später haben wir auch über die Vorbereitung des Themas und den Umgang mit der Vielfalt der Teilnehmenden nachgedacht. Die Moderatorinnen und Vermittlerinnen hatten sich bereits im Vorfeld ausgetauscht und sich Gedanken gemacht.

Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass jedes Erzählcafé einzigartig ist, seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Dynamik und seine eigene Atmosphäre hat. Mir wurde klar, dass es nicht nur wichtig ist, einen gemütlichen, geselligen und sicheren Ort zu wählen, sondern auch, dass eine gute Vorbereitung essenziell ist: Man sollte sich die Zeit nehmen, über das gewählte Thema nachzudenken, zunächst in Bezug auf sich selbst, aber auch in Bezug auf das erwartete Publikum. So kommt das Gespräch besser in Gang und fliesst wie von alleine.

 

Zum erfolgreichen Erzählcafé

Erzählungen können nicht beurteilt oder bewertet werden. Sie sind weder gut noch schlecht, weder richtig noch falsch. Sie sind ganz einfach Erzählungen. Die Ursachen für ein «misslungenes» Erzählcafé liegen meist bei der Vorbereitung, der Vorkenntnis, dem Empfang der Teilnehmenden oder dem Umfeld. Der praktische Leitfaden des Netzwerks Erzählcafé unterstützt Moderator*innen und Veranstalter*innen bei der Vorbereitung und Durchführung von Erzählcafés.

Die Erzählcafé-Moderatorin Lilian Fankhauser liebt Geschichten aus dem Leben. Sie hat mit sechs Studienkolleginnen den Verein zur Förderung lebensgeschichtlichen Erzählens gegründet. Sie sagt, wie man schüchterne Menschen aus der Reserve lockt, und warum es glücklich macht, Erinnerungen zu teilen.

 

Interview: Anina Torrado Lara
Foto: zVg

Wie kamen Sie zum lebensgeschichtlichen Erzählen?

Lilian Fankhauser: Der CAS «Lebenserzählungen und Lebensgeschichten» an der Universität Fribourg hat mich auf diesen Weg geführt. In diesem fantastischen Lehrgang habe ich gelernt, wie man anderen Menschen Erzählraum zur Verfügung stellt und sie ermuntert, ihre Erinnerungen zu teilen. Sechs Alumnae und ich haben danach den Verein zur Förderung des lebensgeschichtlichen Erzählens gegründet, um uns zu vernetzen und im Austausch zu bleiben.

Wie ermuntern Sie schüchterne Menschen, ihre Erlebnisse zu teilen?

Es gibt Moderationstechniken. Wie im Journalismus kann man die Fragen etwas anders als gewohnt formulieren. Ich frage zum Beispiel nicht, welche Länder eine Person bereist hat, sondern: Wie hast du dich gefühlt, als du zum ersten Mal im Ausland warst? Wer war dabei? Es geht nicht um die Reiseroute, sondern um Gefühle, Erlebnisse, das Emotionale.

In unserer leistungsorientierten Gesellschaft sicher keine leichte Aufgabe.

Das stimmt. Eingefahrene Erzählmuster müssen durchbrochen werden. Viele sind sich gewohnt, ihren Karriere-Lebenslauf zu erzählen. Beim lebensgeschichtlichen Erzählen geht es aber um viel mehr: um Emotionen und Erfahrungen, die wir im Leben gesammelt haben. Wir brauchen das Erinnern, um Dinge einzuordnen, die wir hören, sehen oder tun.

In welcher Form kann lebensgeschichtliches Erzählen stattfinden?

Es gibt neben dem Erzählcafé sehr viele Variationen. Eine Theaterregisseurin hat beispielsweise mit der Brauerei Cardinal ein Stück inszeniert, als diese schliessen musste. Die Mitarbeitenden haben ihre Gefühle nachgespielt und so den Abschied verarbeitet. Christian Hanser hat einen alten Schäferwagen zu einer Schatzkiste voller Holzspielzeuge aus der Kindheit umgebaut. Wer will, kann zum Spielen kommen und in Erinnerungen schwelgen. Eine Filmerin arbeitet mit dementen Menschen im Altersheim. Das Playback-Theater Tumoristen in Berlin hilft Menschen, die an einem Tumor leiden, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Alle diese Formen des Erzählens und Erinnerns sind sehr wohltuend.

Was löst das Erzählen im Innersten aus?

Das Erzählen stellt Nähe und Respekt zwischen Menschen her. Zum Beispiel am Erzählcafé: Die Teilnehmenden verbringen ihre Zeit mit anderen, können ihre Gedanken ordnen und es geniessen, wie aus einzelnen Erinnerungen ein Erzählstrang entsteht. Nach einem Erzählcafé bin ich zwei Tage lang glücklich, denn ich habe so schöne Geschichten von Leuten erfahren, die ich vorher nicht kannte.

Schreiben Sie Geschichten auch auf?

Ja, ich habe beispielsweise die Biografie meiner Schwiegermutter aufgeschrieben. Wir haben die gemeinsame Zeit des Erzählens und Zuhörens sehr genossen. Herausgekommen ist ein kleines Buch, das ich ihr geschenkt habe. Das mündliche Erzählen gefällt mir aber nach wie vor am besten, denn es hat eine gewisse Leichtigkeit. Man muss nicht immer alles schriftlich festhalten. Diese Leichtigkeit des Mündlichen zieht gerade Frauen stark an.

A propos: Warum kommen mehr Frauen an Erzählcafés als Männer?

Diese Beobachtung habe ich als Moderatorin auch gemacht. Ich denke, dass Frauen sich in einem Raum wohlfühlen, in dem es nicht darum geht, sich zu profilieren. Sie schätzen es, dass es beim Erzählcafé ums Gemeinsame, um ein Thema geht und nicht darum, welche Geschichte am interessantesten ist.

Was sind die Ziele des neu gegründeten Vereins zur Förderung lebensgeschichtlichen Erzählens?

Wir Gründungsmitglieder haben festgestellt, dass die Methode des lebensgeschichtlichen Erzählens in der Gesellschaft viel zu wenig bekannt ist – und dass der Wert des Zuhörens im Alltag sehr oft unterschätzt wird. Das möchten wir ändern – und möglichst viele lebensgeschichtliche Projekte unterstützen und sichtbar machen. Wir organisieren deshalb zahlreiche Veranstaltungen, so zum Beispiel ein Thementreffen am 19. März 2022 zur Erarbeitung einer Biografie im Zwiegespräch: Lebensgeschichten von «öffentlichen Personen».

Zur Person

Lilian Fankhauser ist Gleichstellungsbeauftragte an der Universität Bern. Sie engagiert sich nebenberuflich als Moderatorin im Netzwerk Erzählcafé Schweiz und leitet Workshops zu den theoretischen Grundlagen und Methoden lebensgeschichtlichen Erzählens.

Nach dem Nachdiplomstudium «Lebenserzählungen und Lebensgeschichten» an der Universität Fribourg hat sie zusammen mit anderen Alumnae den Verein zur Förderung lebensgeschichtlichen Erzählens gegründet. Auf der Webseite publizieren sie Veranstaltungen, geben Tipps und vernetzen die Mitglieder. Sie beraten und coachen andere Institutionen und dokumentieren auf Wunsch das Leben einer Person.

 

Lesetipp: Heilende Wirkung von Erzählcafés
Kerstin Rödiger, Seelsorgerin am Universitätsspital Basel und langjährige Erzählcafé-Moderatorin, schreibt in einem Artikel, wie sie die Methode des Erzählcafés im Spital einsetzt.

Autorin: Rhea Braunwalder
Foto: Anna-Tina Eberhard

Die Migros rief mit der Weihnachtskampagne dazu auf, niemanden allein zu lassen. Ich wollte einen Beitrag leisten und in der Adventszeit ein Erzählcafé anbieten. Ich freute mich auf neue Gesichter am Tisch. Doch dann sass ich (ziemlich) allein da. Woran lag es? Und wie gehen Moderatorinnen und Moderatoren damit um, wenn nur wenige Menschen – oder niemand – kommt?

Rhea Braunwalder, Projektgestalterin und Moderatorin von Erzählcafés

Mit diesem Beitrag möchte ich ein wichtiges Thema ansprechen: die Partizipation am Erzählcafé. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Moderatorin von Erzählcafés weiss ich, wie wichtig eine offene  Gesprächskultur unter Moderierenden ist. Gemeinsam zu reflektieren, bringt uns alle weiter.

Ich habe letzten Samstag ein Erzählcafé angeboten. Meine Schwester ist gekommen, die restlichen Stühle blieben leer. Wir haben dann zusammen einen Tee getrunken und Musik gehört. Natürlich habe ich mich gefragt, woran es lag, dass niemand kam, und was es bräuchte, damit mehr Personen an meine Erzählcafés kommen.

Allein auf weiter Flur – woran liegt es?

Wenn ich ein Erzählcafé organisiere und nur eine oder zwei Personen kommen, bin ich enttäuscht. Ich überlege mir: War mein Erzählcafé zu kurzfristig angekündet? Liegt es an mir als Person? Lag es am Wetter, an der Tageszeit, am Wochentag, am Thema, an der Pandemie? Unweigerlich befinde ich mich in einer Rechtfertigungshaltung. Ich fühle mich, als müsste ich auch noch Aussenstehenden versichern: «Auch zu zweit war es schön, und es wurden viele Geschichten ausgetauscht!»

Auch wenn mir andere Moderierende und die Gäste versichern, dass sie das Erlebnis auch in einer kleinen Runde geniessen, beschäftigt mich das. Ich finde es wichtig, dass wir öfter und offener darüber reden, wenn unsere Erzählcafés nicht so gut gelaufen sind. Wir sollten es nicht als Scheitern oder Misserfolg empfinden. Schliesslich geht es, besonders bei Erzählcafés, nicht um eine leistungsorientierte Tätigkeit – weder beim Teilnehmen noch beim Moderieren.

Partizipation fängt schon bei der Planung an

Ich vermute, dass das Rezept eines erfolgreichen Erzählcafés die Partizipation ist. Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz ruft zu partizipativen Erzählcafés auf. Partizipation kann von Mitsprache über Mitentscheidung bis zu Beteiligung reichen. Partizipation ist nicht nur bei der Durchführung, sondern bereits bei der Planung eines Erzählcafés empfehlenswert. Oft bleiben wir in der Planung bei einer Vorstufe der Partizipation: der Informierung. Wir suchen ein Thema aus, einen Ort, eine Uhrzeit. Dann kommunizieren wir die Fakten. Vielleicht ist es nicht ganz so überraschend, dass wenige Personen kommen. Denn eine Person, die an einem Erzählcafé teilnimmt, muss zufällig gerade dann Zeit haben, mit dem Thema resonieren, an diesem Ort sein und noch die Information irgendwo gelesen haben.

Wenn wir potenzielle Teilnehmende nebst der Informierung auch noch nach ihrer Meinung oder nach ihren Erfahrungen fragen würden, wäre das ein weiterer Schritt in Richtung eines partizipativ gestalteten Erzählcafés. Richtig partizipativ wird es dann, wenn wir mit den Teilnehmenden gemeinsam das Erzählcafé planen, zum Beispiel in einer Planungsgruppe. Hier bestimmt die Gruppe gemeinsam den Tag, die Uhrzeit und das Thema. So freuen sich alle gemeinsam auf «ihr» Erzählcafé, das zum Gemeinschaftsprojekt geworden ist.

Eine persönliche Einladung ist entscheidend

Ich bin auch sicher, dass die Reise zu erfolgreicheren Erzählcafé mit einer persönlichen Einladung beginnt. Denn wir dürfen nicht vergessen: Viele Menschen haben eine hohe Hemmschwelle, etwas Neues auszuprobieren und sich gegenüber anderen zu öffnen.

Es würde mich interessieren, wie diese Einladung lauten könnte. Schreibt mir doch eine E-Mail mit euren Gedanken und Kommentaren oder teilt eure Erfahrungen im Schwarzen Brett. Ich freue mich, von euren Erfahrungen zu lesen: rhea.braunwalder@netzwerk-erzaehlcafe.ch.

Andreas Schmidhauser, Mitbegründer und Co-Leiter des Theater Süd in Basel, findet das Erzählcafé ein hochspannendes Format, um den Puls eines Quartiers zu spüren. So bot er eines im Rahmen der «Johanna is calling-Woche» vom 9. bis 15. August 2021 an. Was dabei herauskam, erzählt er im Interview. 

Herr Schmidhauser, wie kamen Sie auf die Idee, ein Erzählcafé zu veranstalten? 

Andreas Schmidhauser: Das Theater Süd in Basel arbeitet partizipativ mit der Bevölkerung zusammen, um Projekte im Bereich Theater, Tanz und Text zu entwickeln. Wir verstehen uns als Teil des lebendigen, diversen und sich schnell verändernden Gundeli-Quartiers. Die Quartierkoordination Gundeldingen hat uns auf das Erzählcafé aufmerksam gemacht, und wir fanden das Format hochspannend. Es bringt uns als Theaterinstitution – abseits von theatralen Formaten – mit Menschen aus dem Quartier ins Gespräch. Diese niederschwelligen Resonanzräume sind für die weitere künstlerische Arbeit des Theater Süd wichtig. Wir wollen Projekte nahe an den Lebenswelten der Bevölkerung konzipieren. Das Erzählcafé ist ein Seismograf: Es fühlt den Puls im Quartier.

Wer war am Erzählcafé beteiligt?

Für unser aktuelles Theaterprojekt «Stimmenmeer» arbeiten wir mit dem Pflegeheim MOMO und dem Chor «Singen ohne Grenzen» (Verein ASK Basel) zusammen. Wir beabsichtigten, den Puls mit ein oder zwei Erzählcafés im Pflegeheim MOMO zu spüren. Covid-19 hat das dann verhindert. Stattdessen führten wir das Erzählcafé später im Rahmen der «Johanna is calling-Woche» im Theater Süd durch.

Welches Thema wählten Sie?

Das Thema «Wendepunkte». Bei der «Johanna is calling-Woche» geht es um die historische Figur Johanna von Orléans und die Fragen: Wie haben wir unsere tiefgreifenden Entscheidungen im Leben getroffen? Welche inneren und äusseren Stimmen leiten uns und auf welche hören wir? Mit dem Erzählcafé schufen wir einen sehr persönlichen Zugang zu diesen Fragestellungen.

Wer kam ans Erzählcafé?

Geplant war ursprünglich, das Erzählcafé im Pflegeheim MOMO durchzuführen. Durch das Verschieben in die «Johanna is calling-Woche» boten wir es für ein breiteres Publikum an. Es kamen 12 Teilnehmende zwischen 25 und 70 Jahren. Ein grosser Erfolg, denn an diesem Generationen übergreifenden Erzählcafé wurden Geschichten und Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Lebensphasen ausgetauscht. Es hat mich beeindruckt, wie die Menschen sich aktiv zugehört haben.

Inspirierendes Erzählcafé

Das Theater Süd hat für sein besonderes Erzählcafé im Rahmen der «Johanna is calling-Woche» im Basler Gundeli-Quartier einen Förderimpuls erhalten. Auch Sie können sich mit Ihrer Idee weiterhin für das Förderprogramm 2021 bewerben.

Der idyllisch im St.Galler Stadtpark gelegene Frauenpavillon war am 27. August 2021 Schauplatz eines Generationen-Erzählcafés. Die Moderatorinnen Fabienne Duelli und Rhea Braunwalder sprachen mit 24 Teilnehmerinnen und einem Teilnehmer über «50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht in der Schweiz».

Fabienne Duelli, das hochaktuelle Thema lockte viele Menschen in den Frauenpavillon. 

Fabienne Duelli

Fabienne Duelli (Geschäftsstelle der Frauenzentrale Appenzellerland): Ja, es kamen 24 Frauen und ein Mann – der Partner einer Teilnehmerin. Es hat mich sehr gefreut, dass Frauen von 20 bis 70 dabei waren, darunter auch Grossmutter-Mutter-Tochter-Gespanne.

Was machte das Erzählcafé so besonders?

Wir setzten uns nach dem Fish-Bowl-Prinzip in zwei Kreise: einen inneren Kreis aus zwei Moderatorinnen und drei Gesprächsteilnehmerinnen und einen äusseren Kreis aus Gästen und Angehörigen. Im inneren Kreis erzählten wir uns über das Frau-Sein und wie sich unsere Rechte und Pflichten in den letzten 50 Jahren verändert haben. Auch der äussere Kreis wurde ins Gespräch einbezogen. Fast alle Personen haben eine persönliche Geschichte oder einen Gedanken beigetragen.

Welche Geschichte hat Sie besonders berührt?

Die Einstiegsfrage lautete: «Wie alt fühlst du dich heute?» Eine Frau meinte lachend, sie fühle sich immer alt, wenn sie ihr Alter bei Online-Anmeldungen eingeben müsse und dann mehrmals nach unten bis zu ihrem Geburtsjahr scrolle. Es war auch sehr schön zu hören, wie die Frauen erzählt haben, was sie empfunden haben, als sie das erste Mal abstimmten, oder merkten, dass sie nicht abstimmen durften.

Was hat Sie überrascht?

Dass die jüngeren Frauen kaum glauben konnten, dass eine Frau vor 50 Jahren noch das Einverständnis ihres Mannes brauchte, um einen Job anzutreten. Das Bewusstsein der jungen Frauen für den Einsatz der Frauenrechte-Pionierinnen ist heute nicht mehr oder nur sehr wenig vorhanden.

Wie können junge Frauen sich in den nächsten 50 Jahren einbringen?

Das Ziel des Erzählcafés war, Frauen darin zu bestärken, für ihre Rechte einzustehen, aber auch ihre Pflichten wahrzunehmen. Das heisst, dass auch jüngere Frauen – und junge Menschen allgemein – sich aktiv in politische Themen einmischen sollen und nicht davon ausgehen, dass jemand anderes für sie kämpft. Insofern war das Erzählcafé auch ein Augenöffner, denn es zeigte, dass es im Jahr 2021 noch immer subtile Benachteiligungen gibt, sei das auf dem Arbeitsmarkt, im Alltag oder in der Paarbeziehung.

ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Gerber, Hans / Com_L15-0200-0001-0001 / CC BY-SA 4.0

Veranstaltungsreihe zu «50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht»

Das Generationen-Erzählcafé wurde vom Kath. Frauenbund SG/Appenzell sowie den beiden Frauenzentralen St.Gallen und Appenzell Ausserrhoden und dem Verein Ostsinn angeboten. Es fand am 27. August 2021 im Rahmen des Jubiläums zum 50-jährigen Stimm- und Wahlrecht der Schweizer Frauen (siehe auch Flyer) statt. Die Macherinnen wurden mit einem Förderimpuls als inspirierendes Erzählcafé ausgezeichnet.

Tipp: 50 – 50 – 50

Zum 50-jährigen Jubiläum des Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz haben sich 50 Fotografinnen zusammengeschlossen, um einen landesweiten Blick auf die Stellung der Frau zu werfen. 50 Fotografinnen haben ein Portrait einer Frau ihrer Wahl realisiert. Die Publikation wurde unter anderem vom Migros-Kulturprozent unterstützt.

Johanna Kohn, Professorin für Alter, Biographiearbeit und Migration an der FHNW, lancierte zusammen mit Simone Girard-Groeber, Forscherin im Gehörlosenbereich an der FHNW, ein besonderes Projekt: Sie luden hörende und gehörlose Menschen zum Erzählcafé ein. Johanna Kohn erzählt über diese interkulturelle Begegnung.

 

Interview: Anina Torrado Lara

Wie kamen Sie auf die Idee, Erzählcafés zu veranstalten, bei denen das «Einander Zuhören» eine Herausforderung darstellt?

Johanna Kohn

Johanna Kohn: Die Idee kam von Simone Girard-Groeber. Sie wollte die interkulturelle Begegnung zwischen Hörenden und Gehörlosen ermöglichen und herausfinden, was da im Gespräch passiert. Zuhören und Erzählen konnten wir dank zwei Gebärdensprach-Dolmetscherinnen. Es war ähnlich anspruchsvoll, wie wenn Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache und Kultur zusammenkommen.

Inwiefern war die Begegnung zwischen Gehörlosen und Hörenden «interkulturell»?

Die Begegnungen waren in mehrfachem Sinne interkulturell: In jeder Kultur teilen wir gemeinsame Sprachen, gewisse Gewohnheiten, Regeln, Verhalten, Rituale und Geschichten. Hörende und Gehörlose in der Schweiz leben in der gleichen Umgebung, unterscheiden sich aber in Sprache, Geschichte, Umgang, Bedürfnissen. Gehörlose Menschen sind zudem in sich «bi-kulturell»: Sie sind Teil der hörenden Kultur einerseits, nutzen aber andererseits auch ihre Gebärdensprache und fühlen sich der Gehörlosenkultur angehörig.

Was prägt die Kultur von gehörlosen Menschen in der Schweiz?

Ein Einblick in die Geschichte der Gehörlosen in der Schweiz macht das verständlich: Viele der älteren Gehörlosen wurden früh vom Elternhaus getrennt und wuchsen in den wenigen Internaten für Gehörlose in der Schweiz auf. Dort war die Gebärdensprache vielfach verboten und sie wurden für das Gebärden bestraft. Unter grosser Anstrengung mussten sie lernen, Laute zu artikulieren und von den Lippen zu lesen. Untereinander haben sie sich oft nur versteckt in Gebärdensprache austauschen können. Das prägt. Hörende in der Schweiz teilen diese Geschichte nicht, sie haben vielfältige andere Erfahrungen. Während für die Gehörlosen als Minderheit das bi-kulturelle Leben der Alltag ist, war es für die Hörenden am Erzählcafé eher neu, Minderheit in einer gehörlosen Kultur zu sein.

Besteht heutzutage mehr Chancengleichheit für Gehörlose?

Es wurde schon einiges getan. Zum Beispiel werden mehr Informationen in Gebärdensprache übersetzt. Aber gerade im Bildungsbereich bestehen noch enorme Ungleichheiten. Das zeigt sich dann auch in der Berufswahl. Am Erzählcafé haben wir über dieses Thema gesprochen. Viele Gehörlose sagen, dass sie sich in einem ständigen «Kampf ums Sichtbarwerden» befinden. Es fängt schon bei der Berufswahl an: da sind auf den ersten Blick ganz viele Tätigkeiten «unmöglich».

Sind Hörende hilflos im Umgang mit Gehörlosen?

«Hilflos» möchte ich nicht sagen, aber vielleicht erst einmal «sprachlos» und «fremd» in einer fremden Kultur. Kontakt entsteht vielleicht, aber nur sehr oberflächlich. Vertiefte Gespräche sind möglich, wenn Hörende sehr kompetent in Gebärdensprache sind, oder Dolmetschende dabei sind. Das hat uns auch das Erzählcafé gezeigt: Es brauchte eine gute Vorbereitung, damit der interkulturelle Austausch für alle möglich und ein bereicherndes Erlebnis ist.

Können Sie uns einen ersten Einblick in Ihre Erkenntnisse geben?

Ich möchte noch nicht viel vorwegnehmen, aber die Erzählcafés haben bei allen Beteiligten Lust auf mehr geweckt. Sie haben den Hörenden Mut gemacht, sich darauf einzulassen, erst einmal nichts zu verstehen – und dann aber ganz viel zu erleben. Und sie haben den Gehörlosen den Raum gegeben, ihre Erfahrungen und ihre Welt «laut» sichtbar zu machen. Die Ergebnisse und der Leitfaden zur Durchführung von «Erzählcafés Inklusiv» mit Hörenden und Gehörlosen ist hier online.

 

Die Erzählcafé-Reihe mit Gehörlosen und Hörenden

Die Erzählcafé-Reihe wurde 2020 vom Netzwerk Erzählcafé mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund, der Max-Bircher-Stiftung und dem Verein Sichtbar Gehörlose in Zürich veranstaltet. Mit dabei waren neben Johanna Kohn und Simone Girard-Groeber auch zwei Dolmetscherinnen sowie hörende und gehörlose Gäste und Moderierende. Aus den Erkenntnissen der Erzählcafés und Interviews mit Beteiligten enstand 2021 ein Bericht über die Kommunikation in interkulturellen Erzählcafés und ein Leitfaden mit Tipps.