Erzählcafés in Alters- und Pflegeheimen in Genf: Ein Erfahrungsbericht

Zwischen Juni und Dezember 2022 habe ich, auf Anfrage der Stadt Genf, rund zehn Erzählcafés mit Bewohnerinnen und Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen moderiert. Eine prägende zwischenmenschliche Erfahrung, die mehr als anderswo Anpassungsfähigkeit und Kreativität im Umgang mit Unvorhergesehenem erforderte.

«Was erzählen Sie uns denn heute?» Diese Frage wird mir unweigerlich gestellt, wenn ich gebeten werde, ein Erzählcafé mit älteren Menschen durchzuführen, die in einem Alters- und Pflegeheim leben. Und zwar noch bevor ich überhaupt erklären konnte, was das Erzählcafé ist, zu dem sie eingeladen worden sind, und wie es abläuft. Jedes Mal antworte ich mit einem breiten Lächeln und beruhige: «Nicht ich, sondern Sie werden erzählen», was bei vielen Verwunderung hervorruft. Ich schliesse daraus, dass sich das Erzählen über das eigene Leben und die Erlebnisse in Alters- und Pflegeheimen eher auf Gespräche unter vier Augen beschränkt oder hinter verschlossenen Türen im Zimmer stattfindet.

Auf Anfrage der Abteilung für Kultur und Digitalisierung der Stadt Genf (Département de la culture et de la transition numérique) wurden – zeitgleich mit der Promotion der Website mirabilia.ch – Erzählcafés in Seniorenvereinen und Alters- und Pflegeheimen angeboten. Ziel war es, diese neue digitale Plattform den Seniorinnen und Senioren vorzustellen und sie auf das reichhaltige Erbe der Museen und kulturellen Einrichtungen der Stadt aufmerksam zu machen. So wurden zwischen Juni und Dezember 2022 fünfzehn Erzählcafés organisiert, die meisten davon in Alters- und Pflegeheimen. Die Themen orientierten sich an jenen der Plattform mirabilia.ch, in diesem Fall war es das Reisen.

Sich besser kennenlernen … auch wenn man sich schon kennt

Auch wenn nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich war, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Alters- und Pflegeheime freuten, am Erzählcafé teilzunehmen, so haben sie insbesondere die Möglichkeit des respektvollen Gesprächs und des wohlwollenden Zuhörens geschätzt. Zwar haben diese Treffen ihren Zweck, die Website mirabilia.ch zu bewerben, nicht voll erfüllt, sie haben den Teilnehmenden jedoch die Möglichkeit geboten, von sich zu erzählen, einander zu entdecken und besser kennenzulernen – auch wenn sie täglichen Kontakt zueinander haben.

Vor allem aber sorgten die Erzählcafés dafür, dass sich die Bewohnnerinnen und Bewohner wieder als Individuum mit eigener Identität innerhalb der Gemeinschaft fühlen. Ausserdem wurde ihren persönlichen Erzählungen Wert beigemessen, da alle aufmerksam zuhörten, ohne zu unterbrechen, zu kommentieren oder zu urteilen. «Anders als sonst üblich haben sie einander zugehört, ohne einander ins Wort zu fallen oder zu widersprechen», stellte eine Fachperson einer Einrichtung fest. Die Gesprächsregeln am Erzählcafé, die selbstverständlich erscheinen mögen, sind hier besonders wichtig.

Anpassung und Kreativität

Die Moderation von Erzählcafés mit älteren Menschen, deren funktionale, kognitive und soziale Fähigkeiten nachlassen, geht mit besonderen Herausforderungen einher. Man muss auf Unvorhergesehenes reagieren und Kreativität an den Tag legen können, «um vom geplanten methodischen Ablauf abzuweichen und wieder darauf zurückzukommen, wenn es für die Teilnehmenden einen Vorteil hinsichtlich Anerkennung, Erfahrung und Interaktion mit den anderen darstellt», erklärt Johanna Kohn, Professorin am Institut für Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und Mitglied des Teams des Netzwerks Erzählcafé Schweiz*.

Es gehen ständig Pflegefachpersonen aus und ein, sei es, um ein Medikament zu einer festen Zeit zu verabreichen, eine Bewohnerin zu ihrer ärztlichen Untersuchung zu begleiten oder einen Bewohner in die Gruppe einzufügen, der erst später vom Mittagsschlaf aufgewacht ist. Es sind also laufend Anpassungen notwendig. Am häufigsten betreffen sie die folgenden vier Aspekte:

  • Tempo: Im Alter nimmt das Tempo ab. Man muss sich den älteren Menschen also auf eine besondere Art und Weise zuwenden, ihnen Zeit lassen, die Frage zu verarbeiten, die richtigen Worte zu finden, und wenn nötig umformulieren und die Fragen einfacher fassen.
  • Roter Faden: Es ist zuweilen schwierig, den roten Faden des Erzählcafés zu behalten, sowohl im Hinblick auf das Thema, da sich die Bewohnerinnen und Bewohner auch über aktuelle Alltagssorgen austauschen wollen, als auch in chronologischer Hinsicht, da es für sie schwieriger ist, in der Gegenwart zu erzählen, geschweige denn, in die Zukunft zu blicken.
  • Wortmeldungen: Es scheint mir, dass es den älteren Menschen, die an den Erzählcafés in den Alters- und Pflegeheimen teilgenommen haben, schwerer fällt als anderen Zielgruppen, spontan das Wort zu ergreifen. Es hat geholfen, dass sich zu Beginn des Treffens alle rundum mit ihrem Vornamen vorgestellt haben und so zumindest einmal zu Wort gekommen sind. Auf diese Weise wurde ein Klima des Vertrauens geschaffen und jene Personen, die sich nicht trauten, ohne Aufforderung das Wort zu ergreifen, konnten mit ihrem Vornamen angesprochen und so dazu ermuntert werden.
  • Gehör: Viele ältere Menschen haben Hörprobleme. Es ist deshalb wichtig, laut und langsam zu sprechen. Leider reicht das aber nicht immer, weswegen manchmal Frustration und Unmut in der Gruppe aufkommt. In einer Einrichtung bekam ein Bewohner mit Hörproblemen einen Kopfhörer mit Verstärker, der mit einem Mikro verbunden war. Das Mikrofon wurde auf ganz natürliche Weise zu einem «Redestab», den die Personen, die erzählen wollten, der Reihe nach in die Hand nahmen.

Auch die Emotionen kamen bei den Treffen in den Alters- und Pflegeheimen nicht zu kurz, es wurde gelacht und geweint. «Es entstanden neue Beziehungen zwischen Menschen, die Gemeinsamkeiten in ihrer Lebensgeschichte entdeckt haben, von denen sie nichts wussten», erzählte eine Fachperson einige Tage nach dem Erzählcafé. «Es entstand eine Art freundschaftliche Verbundenheit zwischen den Personen, die teilgenommen haben, bedingt durch das Gefühl, gemeinsam etwas Besonderes erlebt zu haben.»

Text: Anne-Marie Nicole

*Johanna Kohn, «EB Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis», Heft 4, 66. Jahr, 2020, herausgegeben von der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland – Bundesarbeitsgemeinschaft e. V.