Geschichten, die 27 Nationen verbinden

Das Basler Gundeli-Quartier war während 18 Monaten Schauplatz eines visionären Erzählcafé-Projekts: 130 Menschen aus 27 Nationen erzählten sich ihre Lebensgeschichten. Die Quartierkoordinatorin Gabriele Frank und die FHNW-Professorin Johanna Kohn erzählen von emotionalen Momenten und kleinen, aber feinen Veränderungen im Quartier.

 

Interview: Anina Torrado Lara
Fotos: Kathrin Schulthess

Frau Frank, Sie haben ein Erzählcafé-Projekt im Gundeli angestossen. Was war Ihr Ziel?

Gabriele Frank: Das Gundeli ist ein Schmelztiegel der Kulturen. Als grösstes Quartier in der Stadt Basel mit 19’000 Bewohnerinnen und Bewohnern haben wir eine sehr vielfältige Bevölkerungsstruktur. Unser Ziel war, dass auch Menschen mit knappen Mitteln Zugang zum gesellschaftlichen Leben haben und Gehör finden.

Frau Kohn, wie erlebten Sie das Quartier?

Johanna Kohn: Das Gundeli galt früher als Problemviertel, heute ist es ein sozial gut durchmischtes und lebendiges Quartier. Was mich während des Projekts besonders berührt hat, ist die Offenheit der Menschen. Viele haben von heftigen Fluchterfahrungen erzählt: Sie mussten sich verstecken, um ihren Aufenthaltsstatus bangen und immer wieder neue Sprachen lernen. In ihrem Herkunftsland waren sie Ärzte, Managerinnen, Lehrer oder Handwerkerinnen. Hier in der Schweiz müssen sie von Null anfangen. Viele haben kein Geld für eine Ausbildung und sind sozial isoliert.

Wie lief das Projekt ab?

GF: Wir haben während 18 Monaten rund 20 Erzählcafés zu Themen wie «Mit und ohne Geld leben», «Reisen» oder «Lieblingsorte im Gundeli» durchgeführt. Während dieser Zeit haben wir auch Moderatorinnen und Moderatoren aus dem Quartier ausgebildet, damit sie selbständig Erzählcafés anbieten können.

Wie kam die Erzählkultur bei den Quartierbewohnern an?

GF: Das Projekt war ein grossartiger Erfolg! Es kamen Menschen aus 27 Nationen und zwischen 25 und 80 Jahren. Sie haben beim Erzählen gleiche Bedürfnisse, Erfahrungen und Empfindungen entdeckt. Die eine oder andere Freundschaft wurde geschlossen und es entstanden neue Netzwerke. Viele sagten auch, es sei gut gewesen, Deutsch zu üben.

JK: Ich glaube, dass auch viele Ortsansässige emotional berührt wurden. Menschen, die vom Leben geschüttelt werden, wissen ganz genau, was wichtig ist und was nicht. Hierzulande verlieren wir das Wesentliche manchmal aus dem Blick. Insgesamt hat das Projekt zu mehr Toleranz, Respekt und gegenseitigem Verständnis geführt.

Am Erzählcafé im Gundeli treffen sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Generationen, um einander Geschichten zu erzählen.

Wie haben Sie die Menschen zur Teilnahme bewegt?

GF: Es ist tatsächlich nicht ganz einfach, die verschiedensten Bevölkerungsschichten zu erreichen. Viele Menschen sind von Armut betroffen oder in einer prekären Lebenslage. Sie sind sich nicht gewohnt, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Bewusst haben wir mit den Trägervereinen der Quartierkoordination begonnen, die bereits direkten Zugang und Kontakt zu verschiedenen Menschen haben. Dazu gehören das Familienzentrum, Soup&Chill, der Treffpunkt Gundeli, K5 Basler Kurszentrum, der Verein Elternnetz am Margarethen Schulhaus, SIETAR und das Zwinglihaus.

JK: Ich fand es schön, dass einige Menschen im Programm eine Möglichkeit sahen, ihre Fähigkeiten einzubringen. So zum Beispiel eine Frau aus Ex-Jugoslawien, die dort als Deutschlehrerin arbeitete. In der Schweiz gilt ihr Diplom nicht, sie findet keine adäquate Stelle und hat kein Geld für eine Ausbildung. Sie liess sich zur Moderatorin ausbilden und hat in den Erzählcafés einen Raum gefunden, in dem sie wertgeschätzt wird.

Was hat Ihr Projekt zum Erfolg gemacht?

GF: Mir war es enorm wichtig, dass wir von Anfang an unsere Träger miteinbeziehen, damit das Projekt nachhaltig ist. Dann konnten wir durch eine solide Finanzierung Johanna Kohn, Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, für die inhaltliche Ausgestaltung und das Coaching von Moderierenden aus dem Quartier gewinnen. Die Weiterbildung war für alle kostenlos, damit Geld kein Hinderungsgrund ist.

JK: Das stimmt. Es war enorm wichtig, die Hürden so tief wie möglich zu halten, damit Menschen aus allen Kulturkreisen und Bildungsniveaus mitmachen können.

Wo lagen Stolpersteine?

JK: Die Finanzierung des Projekts war nicht einfach. Wir alle haben an einem gewissen Punkt entschieden, dass wir einen Teil unserer Arbeit ehrenamtlich leisten. Dadurch bekam das Projekt aber umso mehr Drive!

GF: Besonders in der Anfangsphase haben wir viel gelernt. Wir mussten zuerst eine positive Gesprächskultur und ein gemeinsames Verständnis entwickeln, wie der Austausch ablaufen soll. Manchmal wollten zum Beispiel alle gleichzeitig etwas erzählen (lacht). Dann musste die Moderation schauen, dass alle zu Wort kommen. Und manchmal gab es Momente des Schweigens. Das muss man aushalten können.

Johanna Kohn (Zweite von rechts) im Gespräch mit Quartierbewohnerinnen und -bewohnern.

Gab es besonders berührende Momente?

GF: Lars Wolf, ein Lehrer im Gundeli, fand eine eindrückliche Form des Erzählens. Er lud die Eltern seiner Schülerinnen und Schüler ein. Die Eltern sassen im inneren Kreis, die Schüler im äusseren. Die Eltern erzählten von ihrer Schulzeit im Heimatland. Ihre Kinder, die den Schulalltag in der Schweiz ganz anders erleben, waren von den Erzählungen ihrer Eltern fasziniert.

JK: Zwei Frauen konnten nur gebrochen Deutsch und wagten es zuerst nicht, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Dann begann die eine Frau zu sprechen und die ganze Gruppe half ihr, ihre Geschichte fertig zu erzählen. Es gab plötzlich einen Rollentausch: Die Gruppe wurde zur Moderation, während die Moderatorin aus ihrem eigenen Leben erzählte.

Welchen Tipp würden Sie einem anderen Quartier geben?

GF: Wichtig ist, ein solches Projekt nicht im Alleingang, sondern partizipativ anzupacken, sprich viele Akteure in den Quartieren einzubeziehen. Den Lead übernimmt am besten eine Quartierkoordination, denn diese ist neutral, kann aber auch die Brücke zur Verwaltung schlagen.

JK: Ich empfehle, die Erzählcafés regelmässig durchzuführen, z.B. vierteljährlich. Und es braucht engagierte Moderierende, die Freude an der Arbeit mit Menschen haben und den Kontakt zum Netzwerk Erzählcafé pflegen.

Wie geht es im Gundeli weiter?

GF: Der Prozess endete im Juni 2019 mit der Publikation des Evaluationsberichts und der Übergabe der Zertifikate an die frisch gebackenen Moderierenden. Die Erzählcafés werden nun zum integralen Bestandteil der Quartierarbeit, die einzelnen Träger haben sich sogar untereinander vernetzt und bieten weiterhin Erzählcafés an. Dann schauen wir, was aus dem Quartier heraus entstehen wird. Und ich kann verraten: Die Ideen blühen bereits!

Zur den Interviewpartnerinnen

Prof. Johanna Kohn

Johanna Kohn ist Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Sie befasst sich in ihrer Arbeit mit Themen wie Migration, Alter und Biographiearbeit. Beim Erzählcafé-Projekt war sie für die inhaltliche Ausgestaltung während der Initiationsphase und für die Weiterbildung und das Coaching der Moderatorinnen und Moderatoren verantwortlich.

 

 

Gabriele Frank

Gabriele Frank ist Quartierkoordinatorin im Basler Gundeli. Sie war federführende Projektleiterin des Erzählcafé-Projekts und arbeitete eng mit dem Netzwerk Erzählcafé, Johanna Kohn, Soup&Chill, K5, dem Treffpunkt Gundeli, dem Familienzentrum, dem Zwinglihaus, dem Elternnetz Margarethen und SIETAR Basel zusammen. Ausserdem hat sie laufend Berichte in der Gundeldinger Zeitung publiziert. Mitfinanziert wurde das Vorhaben von der Christoph Merian Stiftung, der Kantons- und Stadtentwicklung Basel-Stadt und Privatpersonen.