«Sich Erinnern tut einfach gut.»

Die Erzählcafé-Moderatorin Lilian Fankhauser liebt Geschichten aus dem Leben. Sie hat mit sechs Studienkolleginnen den Verein zur Förderung lebensgeschichtlichen Erzählens gegründet. Sie sagt, wie man schüchterne Menschen aus der Reserve lockt, und warum es glücklich macht, Erinnerungen zu teilen.

 

Interview: Anina Torrado Lara
Foto: zVg

Wie kamen Sie zum lebensgeschichtlichen Erzählen?

Lilian Fankhauser: Der CAS «Lebenserzählungen und Lebensgeschichten» an der Universität Fribourg hat mich auf diesen Weg geführt. In diesem fantastischen Lehrgang habe ich gelernt, wie man anderen Menschen Erzählraum zur Verfügung stellt und sie ermuntert, ihre Erinnerungen zu teilen. Sechs Alumnae und ich haben danach den Verein zur Förderung des lebensgeschichtlichen Erzählens gegründet, um uns zu vernetzen und im Austausch zu bleiben.

Wie ermuntern Sie schüchterne Menschen, ihre Erlebnisse zu teilen?

Es gibt Moderationstechniken. Wie im Journalismus kann man die Fragen etwas anders als gewohnt formulieren. Ich frage zum Beispiel nicht, welche Länder eine Person bereist hat, sondern: Wie hast du dich gefühlt, als du zum ersten Mal im Ausland warst? Wer war dabei? Es geht nicht um die Reiseroute, sondern um Gefühle, Erlebnisse, das Emotionale.

In unserer leistungsorientierten Gesellschaft sicher keine leichte Aufgabe.

Das stimmt. Eingefahrene Erzählmuster müssen durchbrochen werden. Viele sind sich gewohnt, ihren Karriere-Lebenslauf zu erzählen. Beim lebensgeschichtlichen Erzählen geht es aber um viel mehr: um Emotionen und Erfahrungen, die wir im Leben gesammelt haben. Wir brauchen das Erinnern, um Dinge einzuordnen, die wir hören, sehen oder tun.

In welcher Form kann lebensgeschichtliches Erzählen stattfinden?

Es gibt neben dem Erzählcafé sehr viele Variationen. Eine Theaterregisseurin hat beispielsweise mit der Brauerei Cardinal ein Stück inszeniert, als diese schliessen musste. Die Mitarbeitenden haben ihre Gefühle nachgespielt und so den Abschied verarbeitet. Christian Hanser hat einen alten Schäferwagen zu einer Schatzkiste voller Holzspielzeuge aus der Kindheit umgebaut. Wer will, kann zum Spielen kommen und in Erinnerungen schwelgen. Eine Filmerin arbeitet mit dementen Menschen im Altersheim. Das Playback-Theater Tumoristen in Berlin hilft Menschen, die an einem Tumor leiden, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Alle diese Formen des Erzählens und Erinnerns sind sehr wohltuend.

Was löst das Erzählen im Innersten aus?

Das Erzählen stellt Nähe und Respekt zwischen Menschen her. Zum Beispiel am Erzählcafé: Die Teilnehmenden verbringen ihre Zeit mit anderen, können ihre Gedanken ordnen und es geniessen, wie aus einzelnen Erinnerungen ein Erzählstrang entsteht. Nach einem Erzählcafé bin ich zwei Tage lang glücklich, denn ich habe so schöne Geschichten von Leuten erfahren, die ich vorher nicht kannte.

Schreiben Sie Geschichten auch auf?

Ja, ich habe beispielsweise die Biografie meiner Schwiegermutter aufgeschrieben. Wir haben die gemeinsame Zeit des Erzählens und Zuhörens sehr genossen. Herausgekommen ist ein kleines Buch, das ich ihr geschenkt habe. Das mündliche Erzählen gefällt mir aber nach wie vor am besten, denn es hat eine gewisse Leichtigkeit. Man muss nicht immer alles schriftlich festhalten. Diese Leichtigkeit des Mündlichen zieht gerade Frauen stark an.

A propos: Warum kommen mehr Frauen an Erzählcafés als Männer?

Diese Beobachtung habe ich als Moderatorin auch gemacht. Ich denke, dass Frauen sich in einem Raum wohlfühlen, in dem es nicht darum geht, sich zu profilieren. Sie schätzen es, dass es beim Erzählcafé ums Gemeinsame, um ein Thema geht und nicht darum, welche Geschichte am interessantesten ist.

Was sind die Ziele des neu gegründeten Vereins zur Förderung lebensgeschichtlichen Erzählens?

Wir Gründungsmitglieder haben festgestellt, dass die Methode des lebensgeschichtlichen Erzählens in der Gesellschaft viel zu wenig bekannt ist – und dass der Wert des Zuhörens im Alltag sehr oft unterschätzt wird. Das möchten wir ändern – und möglichst viele lebensgeschichtliche Projekte unterstützen und sichtbar machen. Wir organisieren deshalb zahlreiche Veranstaltungen, so zum Beispiel ein Thementreffen am 19. März 2022 zur Erarbeitung einer Biografie im Zwiegespräch: Lebensgeschichten von «öffentlichen Personen».

Zur Person

Lilian Fankhauser ist Gleichstellungsbeauftragte an der Universität Bern. Sie engagiert sich nebenberuflich als Moderatorin im Netzwerk Erzählcafé Schweiz und leitet Workshops zu den theoretischen Grundlagen und Methoden lebensgeschichtlichen Erzählens.

Nach dem Nachdiplomstudium «Lebenserzählungen und Lebensgeschichten» an der Universität Fribourg hat sie zusammen mit anderen Alumnae den Verein zur Förderung lebensgeschichtlichen Erzählens gegründet. Auf der Webseite publizieren sie Veranstaltungen, geben Tipps und vernetzen die Mitglieder. Sie beraten und coachen andere Institutionen und dokumentieren auf Wunsch das Leben einer Person.

 

Lesetipp: Heilende Wirkung von Erzählcafés
Kerstin Rödiger, Seelsorgerin am Universitätsspital Basel und langjährige Erzählcafé-Moderatorin, schreibt in einem Artikel, wie sie die Methode des Erzählcafés im Spital einsetzt.