Katharina Woog ist Beraterin an der Psychologischen Beratungsstelle der Universität St.Gallen (PBS). Jeden Tag klopfen Studierende, Doktorierende und Mitarbeitende an ihre Tür. Sie benötigen Unterstützung, sei es wegen Prüfungsangst, Stress oder Mobbing. Mit dem Erzählcafé hat Woog das Gespräch über das eigene Verhältnis zu Leistung angeregt.

Text: Anina Torrado Lara
Foto: zVg

Die Psychologin Katharina Woog weiss, dass Gesundheit ganzheitlich ist und man Körper und Psyche gleichermassen Sorge tragen muss. Sie arbeitet eng mit dem Unisport zusammen. Dieser bietet mit einem breiten Sportangebot einen Ausgleich zur kopflastigen Arbeit.

Im Oktober 2021 boten die PBS und Unisport anlässlich der HSG Gesundheitstage 2021 Einblicke in neue Sportarten, Entspannungstechniken und Methoden zur Gesundheitsprävention. Neben Meditationstechniken oder gesunder Ernährung gab es die traditionelle Thai-Yoga-Massage oder ein Eisbad auszuprobieren.

Das Ziel der HSG Gesundheitstage 2021 war es, Leistung neu zu denken («Rethinking performance»). Es geht laut Woog nicht darum, wer besser oder schneller ist, sondern, dass man sich Sorge trage und sich nicht überfordere. «Wir erklären das so: Das Berufsleben ist kein Sprint, sondern ein Langstreckenlauf. Wer mit zu viel Tempo startet, wird auf halber Strecke schlapp machen.»

Erzählcafé als neue Erfahrung

Katharina Woog suchte auch nach Methoden, um den Dialog über die eigene Gesundheit anzuregen und zu reflektieren. Sie stiess auf das Erzählcafé und wusste gleich, dass sie es mit Studierenden und Mitarbeitenden ausprobieren wollte. Sie fand einen passenden Raum, schrieb Interessierte an und engagierte Rhea Braunwalder vom Netzwerk Erzählcafé Schweiz als Moderatorin. Diese erzählt: «Das Erzählcafé hat die Teilnehmenden überzeugt. Es brauchte jedoch auch Zeit, um das Vertrauen für ein offenes Gespräch unter Fremden zu etablieren. Der Sprung über den eigenen Schatten und die Öffnung haben das Erzählcafé zu einem besonderen Erlebnis gemacht.»

Alternative zur Selbstoptimierung

«Unsere Gesellschaft verleitet uns dazu, sich selbst und die eigenen Leistungen stets zu optimieren. Mit dem Streben nach schneller, weiter und höher können körperliche und psychische Ermüdungserscheinungen einhergehen. Das hindert uns an einer nachhaltigen und gesunden Leistungsfähigkeit», erklärt Katharina Woog. Die Gespräche am Erzählcafé hätten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer angeregt, ihr persönliches Leistungskonzept zu überdenken und dafür zu sorgen, einen Ausgleich zwischen Arbeit, Studium und Freizeit zu schaffen.

Zur Person

Katharina Woog ist psychologische Beraterin an der Psychologischen Beratungsstelle der Universität St.Gallen (PBS). Nach dem Studium der Psychologie und der Sozialwissenschaften in Giessen bildete sie sich zur Systemischen Therapeutin aus. Sie begleitet Menschen, sich beruflich zu orientieren und bietet Unterstützung in beruflichen oder privaten Belastungssituationen.

Silvia Avalli, Koordinatorin der Pflegetagesstätte Pro Senectute in Faido, nutzt die Erzählcafé-Methode, um den Austausch zwischen den Seniorinnen und Senioren und der lokalen Bevölkerung zu fördern. Leonard Carisi, ein Mitarbeiter der Tagesstätte, ist in die Rolle des Moderators geschlüpft. Silvia und Leonard erzählen von ihren Erfahrungen.

 

Interview: Valentina Pallucca
Foto: Symbolbild (Fotograf: Paul Grogan)

Wie kam es zum Erzählcafé?

Wir wurden angefragt, ob wir als soziale Tagesstätte der Stiftung Pro Senectute Ticino e Moesano ein Erzählcafé veranstalten möchten. Unsere Zielgruppe sind die über 65-Jährigen. So fand das Erzählcafé in einer Osteria in Faido statt, wo sich auch unsere Tagesstätte befindet. Der Moderator, Leonard Carisi, ist einer unserer Pflegemitarbeiter in der Tagesstätte.

Welches Thema haben Sie gewählt?

Wir haben das Thema «Reisen» gewählt, weil wir fanden, dass dieses Thema gerade in Zeiten wie diesen, in denen es nicht immer einfach und möglich ist zu reisen, den Menschen eine gewisse Leichtigkeit zurückgibt. Sie sollen sich an diese Momente in ihrem Leben erinnern und daraus Energie schöpfen.

Wer war am Erzählcafé dabei?

Unser Ziel war es, der lokalen Bevölkerung und den Menschen in der Tagesstätte eine Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch zu bieten. Das Erzählcafé wurde zwar von der Tagesstätte organisiert, fand aber in einem Restaurant vor Ort statt. Dahinter stand die Idee, auch jüngere Menschen und solche ansprechen, die sich noch nicht als «Senior*in» identifizieren.

Welches Fazit ziehen Sie aus dieser Veranstaltung?

Wir sehen das Erzählcafé als lockere Veranstaltung mit einem Thema, das alle Teilnehmenden anspricht und bei dem sie sich einbringen können. Die sieben Teilnehmenden berichteten alle aktiv von ihren Reiseerlebnissen. Die Gruppe hat danach gefragt, ob es weitere Erzählcafés geben wird. Diese positive Rückmeldung hat uns ermutigt, weitere Erzählcafés anzubieten. Wir wissen aber auch, dass der Aufbau einer neuen Austauschplattform dauern kann – und das vor allem in einem Tal wie bei uns in Faido.

Andreas Schmidhauser, Mitbegründer und Co-Leiter des Theater Süd in Basel, findet das Erzählcafé ein hochspannendes Format, um den Puls eines Quartiers zu spüren. So bot er eines im Rahmen der «Johanna is calling-Woche» vom 9. bis 15. August 2021 an. Was dabei herauskam, erzählt er im Interview. 

Herr Schmidhauser, wie kamen Sie auf die Idee, ein Erzählcafé zu veranstalten? 

Andreas Schmidhauser: Das Theater Süd in Basel arbeitet partizipativ mit der Bevölkerung zusammen, um Projekte im Bereich Theater, Tanz und Text zu entwickeln. Wir verstehen uns als Teil des lebendigen, diversen und sich schnell verändernden Gundeli-Quartiers. Die Quartierkoordination Gundeldingen hat uns auf das Erzählcafé aufmerksam gemacht, und wir fanden das Format hochspannend. Es bringt uns als Theaterinstitution – abseits von theatralen Formaten – mit Menschen aus dem Quartier ins Gespräch. Diese niederschwelligen Resonanzräume sind für die weitere künstlerische Arbeit des Theater Süd wichtig. Wir wollen Projekte nahe an den Lebenswelten der Bevölkerung konzipieren. Das Erzählcafé ist ein Seismograf: Es fühlt den Puls im Quartier.

Wer war am Erzählcafé beteiligt?

Für unser aktuelles Theaterprojekt «Stimmenmeer» arbeiten wir mit dem Pflegeheim MOMO und dem Chor «Singen ohne Grenzen» (Verein ASK Basel) zusammen. Wir beabsichtigten, den Puls mit ein oder zwei Erzählcafés im Pflegeheim MOMO zu spüren. Covid-19 hat das dann verhindert. Stattdessen führten wir das Erzählcafé später im Rahmen der «Johanna is calling-Woche» im Theater Süd durch.

Welches Thema wählten Sie?

Das Thema «Wendepunkte». Bei der «Johanna is calling-Woche» geht es um die historische Figur Johanna von Orléans und die Fragen: Wie haben wir unsere tiefgreifenden Entscheidungen im Leben getroffen? Welche inneren und äusseren Stimmen leiten uns und auf welche hören wir? Mit dem Erzählcafé schufen wir einen sehr persönlichen Zugang zu diesen Fragestellungen.

Wer kam ans Erzählcafé?

Geplant war ursprünglich, das Erzählcafé im Pflegeheim MOMO durchzuführen. Durch das Verschieben in die «Johanna is calling-Woche» boten wir es für ein breiteres Publikum an. Es kamen 12 Teilnehmende zwischen 25 und 70 Jahren. Ein grosser Erfolg, denn an diesem Generationen übergreifenden Erzählcafé wurden Geschichten und Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Lebensphasen ausgetauscht. Es hat mich beeindruckt, wie die Menschen sich aktiv zugehört haben.

Inspirierendes Erzählcafé

Das Theater Süd hat für sein besonderes Erzählcafé im Rahmen der «Johanna is calling-Woche» im Basler Gundeli-Quartier einen Förderimpuls erhalten. Auch Sie können sich mit Ihrer Idee weiterhin für das Förderprogramm 2021 bewerben.

Der idyllisch im St.Galler Stadtpark gelegene Frauenpavillon war am 27. August 2021 Schauplatz eines Generationen-Erzählcafés. Die Moderatorinnen Fabienne Duelli und Rhea Braunwalder sprachen mit 24 Teilnehmerinnen und einem Teilnehmer über «50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht in der Schweiz».

Fabienne Duelli, das hochaktuelle Thema lockte viele Menschen in den Frauenpavillon. 

Fabienne Duelli

Fabienne Duelli (Geschäftsstelle der Frauenzentrale Appenzellerland): Ja, es kamen 24 Frauen und ein Mann – der Partner einer Teilnehmerin. Es hat mich sehr gefreut, dass Frauen von 20 bis 70 dabei waren, darunter auch Grossmutter-Mutter-Tochter-Gespanne.

Was machte das Erzählcafé so besonders?

Wir setzten uns nach dem Fish-Bowl-Prinzip in zwei Kreise: einen inneren Kreis aus zwei Moderatorinnen und drei Gesprächsteilnehmerinnen und einen äusseren Kreis aus Gästen und Angehörigen. Im inneren Kreis erzählten wir uns über das Frau-Sein und wie sich unsere Rechte und Pflichten in den letzten 50 Jahren verändert haben. Auch der äussere Kreis wurde ins Gespräch einbezogen. Fast alle Personen haben eine persönliche Geschichte oder einen Gedanken beigetragen.

Welche Geschichte hat Sie besonders berührt?

Die Einstiegsfrage lautete: «Wie alt fühlst du dich heute?» Eine Frau meinte lachend, sie fühle sich immer alt, wenn sie ihr Alter bei Online-Anmeldungen eingeben müsse und dann mehrmals nach unten bis zu ihrem Geburtsjahr scrolle. Es war auch sehr schön zu hören, wie die Frauen erzählt haben, was sie empfunden haben, als sie das erste Mal abstimmten, oder merkten, dass sie nicht abstimmen durften.

Was hat Sie überrascht?

Dass die jüngeren Frauen kaum glauben konnten, dass eine Frau vor 50 Jahren noch das Einverständnis ihres Mannes brauchte, um einen Job anzutreten. Das Bewusstsein der jungen Frauen für den Einsatz der Frauenrechte-Pionierinnen ist heute nicht mehr oder nur sehr wenig vorhanden.

Wie können junge Frauen sich in den nächsten 50 Jahren einbringen?

Das Ziel des Erzählcafés war, Frauen darin zu bestärken, für ihre Rechte einzustehen, aber auch ihre Pflichten wahrzunehmen. Das heisst, dass auch jüngere Frauen – und junge Menschen allgemein – sich aktiv in politische Themen einmischen sollen und nicht davon ausgehen, dass jemand anderes für sie kämpft. Insofern war das Erzählcafé auch ein Augenöffner, denn es zeigte, dass es im Jahr 2021 noch immer subtile Benachteiligungen gibt, sei das auf dem Arbeitsmarkt, im Alltag oder in der Paarbeziehung.

ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Gerber, Hans / Com_L15-0200-0001-0001 / CC BY-SA 4.0

Veranstaltungsreihe zu «50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht»

Das Generationen-Erzählcafé wurde vom Kath. Frauenbund SG/Appenzell sowie den beiden Frauenzentralen St.Gallen und Appenzell Ausserrhoden und dem Verein Ostsinn angeboten. Es fand am 27. August 2021 im Rahmen des Jubiläums zum 50-jährigen Stimm- und Wahlrecht der Schweizer Frauen (siehe auch Flyer) statt. Die Macherinnen wurden mit einem Förderimpuls als inspirierendes Erzählcafé ausgezeichnet.

Tipp: 50 – 50 – 50

Zum 50-jährigen Jubiläum des Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz haben sich 50 Fotografinnen zusammengeschlossen, um einen landesweiten Blick auf die Stellung der Frau zu werfen. 50 Fotografinnen haben ein Portrait einer Frau ihrer Wahl realisiert. Die Publikation wurde unter anderem vom Migros-Kulturprozent unterstützt.

Seit mehreren Jahren leitet Renata Schneider Liengme in Freiburg Erzählcafés in französischer und deutscher Sprache. Wie viele andere auch, legte sie während der Corona-Pandemie diese Treffen auf Eis. Um die Verbindung, die in diesen Zeiten der physischen Distanz umso wertvoller ist, am Leben zu erhalten, schlug sie Anfang Februar 2021 ein Format in digitaler Form oder via Briefpost vor. Das Thema: «Überraschungen».

Renata Schneider Liengme, was hat Sie motiviert, das «Erzählcafé auf Distanz» zu initiieren?

Die Pandemie natürlich! Ich habe den Eindruck, dass eine solche Aktivität vielen Leuten fehlt: Sich treffen, den Erfahrungen anderer Menschen zuhören, sich austauschen. Und da nicht alle Interessenten sich mit digitalen Hilfsmitteln auskennen, habe ich als Ausdrucksmöglichkeit schriftliche Texte vorgeschlagen. Damit niemand ausgeschlossen wird, habe ich die Möglichkeit vorgesehen, dass man als «stumme» Leserin teilnehmen kann, und die anderen Teilnehmerinnen über ihre Anwesenheit informiert. In meiner Einladung habe ich zudem vorgeschlagen, per Telefon erzählte Geschichten zu transkribieren.

Wie sind Sie auf das Thema «Überraschungen» gekommen?

Ich wollte ein «einfaches» Thema wählen. Es scheint mir, dass eine Überraschung auch ohne die Anwesenheit anderer Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die unsere Geschichten inspirieren, mühelos erzählt werden kann.

Ist Ihre Einladung zu diesem schriftlichen Austausch auf Interesse gestossen?

Mit E-Mails und Briefen habe ich 115 Personen zur Teilnahme an diesem Erzählcafé auf Distanz eingeladen, die meisten von ihnen deutschsprachig. Am Ende konnte ich etwa 20 Personen begrüssen – alles Frauen, darunter zwölf Deutschsprachige.

Die meisten Personen, die geantwortet haben, waren bereits mit dem üblichen Erzählcafé-Format vertraut. Eine Reaktion bereitete mir besonders Freude: Eine Freundin, der ich meine Einladung geschickt hatte, antwortete mir, dass sie nicht wisse, was sie mir erzählen könne. Bei einem zufälligen Treffen erzählte sie mir dann aber doch eine Geschichte zur Überraschung, die sie erlebt hatte, als sie erfuhr, dass sie Grossmutter werden würde.

Sie haben auch Geschichten transkribiert.

Ja, ich habe die Geschichten von zwei Teilnehmerinnen transkribiert: Diejenige einer sehr alten Dame, die ich zu Hause besucht habe, um ihre Geschichte zu hören, und diejenige ihrer Nachbarin, die von der Dame selbst eingeladen war und mit der wir sozusagen ein kleines Live-Erzählcafé erlebt haben.

Können Sie uns von den Überraschungen erzählen, ohne dabei die Geheimnisse der Ihnen anvertrauten Geschichten zu verraten?

Die erzählten Geschichten waren nicht weniger überraschend als das Thema. Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, schlechte und gute Überraschungen. Ich konnte sieben Geschichten sammeln – sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch –, die ich den Teilnehmerinnen in Form von zwei Dossiers weitergeleitet habe. Eine Geschichte auf Deutsch traf leider mit einer Woche Verspätung ein. Doch sie war eine echte Überraschung für mich, denn sie kam von einer Dame, die weder mich, noch die Erzählcafés kannte!

Wie haben die Teilnehmerinnen auf die Geschichtensammlung reagiert?

Nachdem ich die gesammelten Geschichten verschickt hatte, erhielt ich von ein paar Leuten sehr zufriedene und auch überraschte Rückmeldungen. Zwei älteren Damen, die ich gut kenne und die die Erzählcafés vor Ort sehr geschätzt hatten, habe ich die Geschichten persönlich überbracht.

Was nehmen Sie aus dieser Erfahrung mit?

Ich bin mit dem Ergebnis recht zufrieden. Doch ich gebe zu, dass viel Arbeit dahinter steckt! Auch die Menschen, die an diesem schriftlichen Erzählcafé teilgenommen haben, waren sehr zufrieden, aber sie bevorzugen das Erzählcafé, bei dem man sich von Angesicht zu Angesicht trifft. Mir geht es auch so.

Ich habe einen Ort (gut gelegen im Herzen der Stadt Freiburg) und zwei Termine für ein deutsches und ein französisches Erzählcafé im Mai und Anfang Juni geplant. Nun hoffe ich natürlich, dass ich diese dann auch wirklich durchführen kann!

Marianne Wintzer führt schon seit längerem Erzählcafés im Alterszentrum Wengistein in Solothurn durch. Mit dabei waren jeweils stationäre Bewohnerinnen und Bewohner sowie Tagesgäste. Mit dem Lockdown kam alles anders.

Der Lockdown im Frühling 2020 war für Marianne Wintzer, stellvertretende Stationsleiterin, ein Schock: «Das Alterszentrum war vom 13. März bis 23. Juni 2020 komplett geschlossen. Wir mussten unsere sehr offene Institution mit Zentrumsfunktion, starkem Einbezug der Angehörigen, vielen freiwilligen Mitarbeitenden, internen und externen Anlässen, viel Besuch und einem florierenden Restaurant von einem Tag auf den anderen schliessen.»

Es stand in den Sternen, ob Menschen noch zusammen am Tisch sitzen dürfen. «Die Erzählcafés waren immer sehr beliebte und lebendige Veranstaltungen», erzählt Marianne Wintzer. Bei der Planung achtete stets auf die aktuelle Stimmung und Situation und wählte ein passendes Thema, zum Beispiel Wohlfühloasen oder Muttertag. «Der Austausch zwischen Menschen, die im Alterszentrum wohnen, und den Tagesgästen war immer sehr schön und hat für Abwechslung im Alltag gesorgt. Plötzlich sollte das nicht mehr möglich sein», erinnert sie sich.

Austausch auch im Lockdown

Die Moderatorin wollte den Kopf aber nicht in den Sand stecken und entschied sich, mit der nötigen Vorsicht weiterzumachen. Sie organisierte Erzählcafés unter strengen Hygienebedingungen und in kleinen Gruppen. «Ich konnte die positiven und negativen Stimmungen gut auffangen», erzählt Wintzer. Sie stimmte die Bewohnerinnen und Bewohner mit einer farbig gestalteten Pinwand auf die Erzählcafés ein und gestaltete die Erzählcafés nach dem gleichen Ablauf: auf den Rückblick folgte ein Ausblick. Von den 90 meist hochbetagten Bewohnenden lud sie 46 ein, 27 sind der Einladung schliesslich gefolgt.

Auf der Pinwand sind Fotos aus dem Lockdown zu sehen. Sie zeigen gemeinsame Erinnerungen und stimmen die Teilnehmenden aufs Erzählcafé ein.

Rechenschaftsbericht nimmt Erzählungen auf

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seien laut Wintzer informiert gewesen, dass an den Erzählcafés auch der Lockdown zur Sprache komme und das Gesagte ausgewertet werde. «Die Stationsleitung wollte von den direkt Betroffenen hören, wie sie den Lockdown erleben und was wir kollektiv daraus lernen können», sagt Marianne Wintzer. «Das Wohl unserer Bewohnerinnen und Bewohner steht im Mittelpunkt.»

Die Erlebnisse und Wahrnehmungen, die sich die Menschen erzählten, wurden von der Zentrumsleitung ausgewertet und flossen in den Rechenschaftsbericht ein. Dieser erzählt von Traurigkeit, Dankbarkeit dem Personal gegenüber, Skepsis gegenüber der Gefährlichkeit der Situation, aber auch von der Freude an den Blumen oder dass «der Buchhalter endlich wieder herkommen kann, um wichtige Dinge zu erledigen.» Wintzer erzählt: «Ich war sehr beeindruckt ob der Fülle und Intensität der Aussagen. Alle Bewohnenden mussten während des Lockdowns eine unglaubliche Anpassungsleistung vollbringen. Diese wurde in den Erzählcafés wertgeschätzt, anerkannt und angesprochen.»

Mit dieser innovativen Idee hat Marianne Wintzer vom Netzwerk Erzählcafé einen Förderbeitrag von 500 Franken erhalten.

Über Marianne Wintzer

Seit 30 Jahren wirkt Marianne Wintzer im Sozial- und Gesundheitswesen mit und für Menschen. Sie ist stellvertretende Zentrumsleiterin im Alterszentrum Wengistein sowie Bereichsleiterin Tageszentrum und Ferienaufenthalt. Mit ihrer «Geschichtenwerkstätte» widmet sie sich zudem dem Erzählen, Zuhören und Bearbeiten von Lebensgeschichten. Beim Erzählcafé engagiert sie sich als aktive Moderatorin.

www.geschwe.com

 

 

Johanna Schlegel-Probst hat sich für ihre Erzählcafé-Reihe im Mai/Juni 2021 ein besonderes Thema überlegt: «Gender» (Geschlecht). Mit dem diesjährigen Jubiläum «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» ist das Thema aktueller denn je.

 

Die erfahrene Erzählcafé-Moderatorin Johanna Schlegel-Probst plant drei Erzählcafés zu diesen Themen:

  • Frauenberufe und Männerberufe – war das einmal?
  • Bücher und Spielsachen für Mädchen und Buben – früher und heute
  • Weibliche vs. männliche Körpersprache und Kleidung oder «wie fühle ich mich wohl in meiner Haut?»

«Zu diesen Themen hat jede und jeder etwas zu erzählen», sagt Johanna Schlegel-Probst. «Es ist wichtig, dass die Menschen ihre Sicht auf gesellschaftliche Themen wie ‘Geschlecht’ reflektieren und andere Perspektiven kennenlernen.» Schlegel-Probst ist überzeugt, dass die Menschen sich dadurch selber neu erfahren und lernen, dass jedes einzelne Individuum wichtig für eine bewusstere und lebenswerte Zukunft ist – unabhängig von Geschlecht, kulturellem Hintergrund, Ausbildung oder sozialem Status.

Leben, die anders als geplant verlaufen sind

Die Moderatorin aus Burgdorf BE spricht breite Teile der Bevölkerung an: per Mail, Postkarten, Flyer und Facebook. Jüngere und ältere Menschen, Frauen und Männer sollen miteinander am Tisch sitzen und beim Geschichtenerzählen die belebende Vielfalt erfahren. «Es tut gut, das eigene Verhalten zu spiegeln und zu hinterfragen. Das gelingt ganz hervorragend, indem wir uns Lebensgeschichten erzählen, die vielleicht nicht immer so verlaufen sind wie geplant», so Schlegel-Probst.

Die Erzählcafés werden im Gewölbekeller an der Grabenstrasse 6 in Burgdorf stattfinden – sofern es die aktuelle Lage zulässt. Auch für die nächsten Jahre hat die Moderatorin Themen auf Lager, die an den monatlichen Erzählcafés zur Sprache kommen: Umwelt und Klimaerwärmung, Kindererziehung, Rassismus, Mobilität und Einkaufsverhalten. Themen, die uns alle etwas angehen. Mit dem besonderen Fokus auf ein gesellschaftlich relevantes Jahresthemen hat Johanna Schlegel-Probst vom Netzwerk Erzählcafé einen Impuls von 500 Franken für ihre Erzählcafés erhalten.

Über Johanna Schlegel-Probst

Johanna Schlegel-Probst aus Burgdorf BE hat viel Erfahrung mit Erzählcafés. Monatlich lädt sie in den Gewölbekeller an der Grabenstrasse 6 in Burgdorf ein. Informationen finden Sie auf der Facebook-Seite der Burgdorfer Erzählcafés.